Bestiarium
Buch?«
KAPITEL 39
P ater Leopold Bruno betrat seine Kirche für die Matutin und betete alleine vor einer Kreuzigungsstatue aus dem 17. Jahrhundert und einem großen Fresko von einem Bellini-Schüler. Darauf war Jesus Christus zu sehen, der bei Vollmond im Garten Gethsemane betete. In der Nähe waren drei seiner Jünger zu erkennen, und umgeben war die Szene von hohen Bergen und schroffen Felsen, die im Mondlicht so bleich wie weißer Marmor erschienen. Es war eine Szene unendlicher Traurigkeit, die die dunkle südliche Wand bedeckte.
Bruno war die ganze Nacht wach gewesen. Wenn er nicht gerade mit seiner Nichte oder mit Jean-Baptiste Simon telefonierte, durchsuchte er die modrigen Archive unter dem Kirchenschiff. Irgendetwas hatte in seinem Kopf »Klick!« gemacht.
Indem er zwischen Dutzenden von alten Dokumenten herumkramte, auf denen Religionszugehörigkeiten, Gelübde, Einweihungen und Nachlässe beglaubigt wurden, suchte er nach einem Schriftstück, von dem er schon mal gehört hatte. Es war ihm vor ungefähr einer Stunde wie eine schreckliche Offenbarung durch den Kopf gezuckt.
»Du hast noch nie davon gehört«, hatte der Pater vor ihm vor vielen Jahren auf seinem Totenbett mit einem Lächeln gemurmelt, das weder trösten noch beunruhigen sollte. »Ich habe es noch niemandem erzählt, bis zu diesem Moment.«
»Was, Vater?«, hatte der junge Bruno sich daraufhin mit sanfter Stimme erkundigt.
»Es gibt da in unserem Keller einen Brief aus dem Jahre 1766. Er ist in einer Schatulle eingeschlossen. Eines Tages, wenn du so alt bist wie ich, sollst du ihn dir anschauen.«
Der Priester hatte die Hand ausgestreckt. Bruno ergriff sie und ertastete ein winziges Geschenk. Es war das erste Mal, dass er eine zu Gesicht bekam - die Medaille des heiligen Benedikt an einer hauchdünnen silbernen Kette.
Während der wenigen Sekunden, in denen Bruno die lateinische Inschrift auf der Medaille las, war sein Vorgänger in ein durch Morphium gemildertes Koma gefallen. Am nächsten Morgen war er schließlich gestorben. Lächelnd. Erlöst. Darmkrebs hatte die Diagnose gelautet. Seine letzten Worte waren diese seltsame Aufforderung gewesen, einen düsteren Keller aufzusuchen, gleichzeitig sein benebeltes Geständnis.
Er drückte die Medaille an der silbernen Kette, die er seit jenem Tag immer getragen hatte, an seine Brust. Damals war er emotional so aufgewühlt gewesen, dass er die Sache nicht weiterverfolgt hatte. Und dann hatte er das Ganze vergessen, bis zu dieser Nacht.
Wieso habe ich nicht meinen Mund gehalten? Ein tiefes Bedauern überkam ihn. Er hatte vor einem Monat an einer Priesterkonferenz in Mexico City teilgenommen und war voller Zweifel nach Antwerpen zurückgekehrt. Da waren seine eigenen Mönchsgelübde als Benediktiner, dann die Mordserie in Südamerika, die unglaublicherweise mit dem heiligen Benedikt in Zusammenhang stand, und dann der Anruf seiner Nichte wegen des grässlichen Mordes hier in seiner Heimatstadt.
Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, über alles eingehend nachzudenken, so sehr war er von sich und seinem Verständnis für die lateinische Sprache, für Geschichte, für Literatur eingenommen. Und, so gestand er sich ein, er wollte seine Nichte, mit der er seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hatte, beeindrucken. Genau genommen hatte er sich mit Julia Deblocks Mutter, seiner einzigen Schwester, Dora, zerstritten, die immer geglaubt hatte, dass ihr jüngerer Bruder Leopold ein bedeutender Schriftsteller oder Philosoph würde. Also jemand, der niemals einem Dogma anhängen würde, worüber sie jedoch von dem Augenblick an anders dachte, als Leopold sein Studium abbrach, die Universität verließ und in ein Kloster in der Nähe von Gent eintrat. Und dann war er rangmäßig aufgestiegen, bis er seine eigene Kirche in Antwerpen leitete.
Sie hatten in den vergangenen Jahren nur selten miteinander geredet.
Wie gescheit er doch für vierundzwanzig Stunden oder weniger gewesen war und Hinweise wie Schokoladenküsse verteilt hatte.
Nur um festzustellen, dass er wahrscheinlich seinen Orden verraten oder Schlimmeres getan hatte.
Er kroch mit einer Taschenlampe durch die düsteren Gedärme seiner Kirche, wohin sich seit Jahren kein Pfarrgeistlicher mehr verirrt hatte. Es war eine düstere, bedrückende Wildnis, ein echtes Verlies, wie es der verstorbene Pater beschrieben hatte, verriegelt, mit langen Reihen von Totenschädeln und Dokumenten aus vier Jahrhunderten, die jede vorangegangene
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