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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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ausgelöste Aussterben von Tierarten zur Sünde erklärt. Und zwar zu einer biblischen Sünde. Das war ein großer Schritt nach vorn.«
    »Ja, das entsprach schon eher dem Denken einiger unserer bedeutenden Gäste in vergangenen Zeiten«, fügte James hinzu.

 
    KAPITEL 35
     
    J ahrelang hatte Margaret Olivier in der faszinierenden Unbestimmtheit der Schriftensammlung des Grafen Engelbert von Nassau gelebt und geatmet. Er war einer der engsten Vertrauten des Herzogs von Burgund und Ende des 15. Jahrhunderts einer der reichsten Bürger von Brügge. Als Martin seinen Namen nannte, ohne eine Erklärung hinzuzufügen, vermutete sie, dass er auf eins seiner Bücher gestoßen war. Sollte dies der Fall sein, so ging es um ein wahres Vermögen.
    »Wir landen in gut einer Stunde«, verkündete der Copilot, während die Maschine auf dreiundzwanzigtausend Fuß stieg und Kurs auf den Ärmelkanal nahm.
    Margaret klappte ihren Laptop auf und begann die Bilder ihrer vor Jahren angefertigten Dissertation durchzugehen und sich wieder mit einer Welt vertraut zu machen, die sie aus Mangel an neuen interessanten Manuskriptfunden oder an Möglichkeiten, zu bahnbrechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen zu gelangen, aufgegeben hatte.
    Die Bilder von vor fast fünfzehn Jahren übten mit ihrer atemberaubenden Originalität und Kraft auf sie die gleiche Wirkung aus wie beim ersten Mal, als sie sie betrachtet hatte. Sie bewunderte die Dutzende von »alten Meistern«, die die europäische Buchmalerei des 15. Jahrhunderts zu einer der meistgefragten Kunstformen der Renaissance gemacht hatten.
    Im 15. Jahrhundert dienten die prächtigen Malereien dem Adel, Königen und Königinnen dazu, das schuldbeladene Gewissen zu entlasten, indem sie die fähigsten Künstler aller Zeiten beauftragten, für sie private Gebetbücher zu gestalten. Horae genannt, der Plural des lateinischen Wortes für »Stunde«, trug ein Werk dieses Genres die Bezeichnung »Stundenbuch«.
    Aber nicht nur der Adel besaß solche Bücher. Sie wurden ebenfalls in großer Zahl in billigen Ausführungen hergestellt, so wie die Bibel und das berühmte Buch des Marco Polo in Hunderten von Ausgaben produziert wurden. Und all das geschah, lange bevor Gutenberg auf den Plan trat. Um 1470 erschien in Rom das erste per Schriftsatz geschaffene Buch, Die Briefe des heiligen Hieronymus, neben anderen Werken, darunter auch das berühmte Navis Stultorum oder auch Narrenschiff, und die Blütezeit der großen mit handgemalten Illustrationen versehenen Bücher in Europa näherte sich ihrem Ende. Durch die Drucktechnik, so argumentierte Margaret in ihrer Doktorarbeit, gingen viele Geheimnisse, die sich aus der Gegenüberstellung von Literatur und Gemaltem, von Wörtern und Bildern ergaben, für immer verloren.
    Die Geheimnisse ... In ihrem Geist erklang ein Nachhall aus einer Zeit, kurz bevor sie Martin kennengelernt hatte. Sie wohnte damals in einem Apartment in Oxford, veranstaltete Seminare für Doktoranden und reiste dank großzügiger Forschungsstipendien ihrer Fakultät kreuz und quer durch Europa.
    Einige dieser Geheimnisse ergaben sich allein schon aus dem Begriff »Meister«, der gleichbedeutend mit dem Begriff »unbekannt« war. Jene anonymen Koryphäen trugen Namen wie Meister des Heiligen Franziskus, Meister der Chronik von Jerusalem, der Barberini-Tafeln, der Visitation, der Wiederauferstehung, der Propheten und - ihrer Meinung nach der Erlesenste von allen - Meister der Maria von Burgund, ein Künstler, dessen wahre Identität nie aufgeklärt worden war, der jedoch ein Stundenbuch geschaffen hatte, wie es kein anderes jemals gegeben hatte.
    Sie betrachtete vier Bilder eines Stundenbuchs, das niemand anderem gehört hatte als dem Mann, dessen Name Martin rätselhafterweise genannt hatte, Graf Engelbert von Nassau. Weiter hatte Martin nichts gesagt. Er wusste nicht mehr.
    »Warum nennst du seinen Namen? Was ist? Was verschweigst du?« Sie hatte ihn mit Fragen bestürmt, jedoch ohne eine Antwort zu erhalten.
    Margaret wusste, dass, ehe der Graf in den Besitz der wertvollen Handschrift gelangt war, diese Maria von Burgund gehört hatte, und wenn nicht Maria, dann ganz gewiss ihrem Sohn, Philip dem Schönen. Schließlich konnte Maria sich in den vier Jahren, in denen sie das größte Königreich der Welt, das aus halb Europa und den Niederlanden bestand, »besaß«, so gut wie alles leisten. Kunsthistoriker hatten auf Alexander Bening oder auf seinen Sohn Simon als Maler der Bilder

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