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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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getippt. Aber Margaret war sich darin nicht sicher.
    Die Streitigkeiten zwischen Kunstgelehrten drehten sich um zahlreiche Fragen zu Stil und Zuordnung oder genauer um die authentische Urheberschaft und die Herkunft oder Genealogie der Eigentümer.
    Margaret gehörte zu jenem engen Kreis von Persönlichkeiten, die als die Auserwählten betrachtet wurden, Historiker, deren behandschuhten Händen man ein einziges empfindliches kleines Stück Papier anvertrauen konnte, ein Blatt, das zig Millionen Dollar wert war. Sie kannte alle Besitzer oder institutionellen Direktoren persönlich - von der Huntington Library in Pasadena, Kalifornien, der Nationalbibliothek in Madrid, des Kupferstichkabinetts in Berlin, der Holkham Hall des Earl of Leicester, des Czartoryski-Museums in Krakau, des Britischen Museums, des Musée Condé in Chantilly und, natürlich, der bedeutenden Bibliotheken in Oxford, Wien und Paris.
    Ein berühmter Ornithologe hatte, während er durch den peruanischen Urwald stolperte, eine neue neotropische Vogelart entdeckt, indem er sie nur einen einzigen Ton ausstoßen hörte. Zeitgenossen berichteten, er habe sofort gewusst, dass die Art noch unentdeckt war, obgleich er keinen einzigen Blick auf den Vogel hatte erhaschen können. Margaret erging es mit einigen kunstgeschichtlichen Perioden ganz genauso. Eine winzige Skizze, von anderen Historikern bisher ignoriert, hatte sie sofort an Raphael denken lassen, und sie hatte recht gehabt. Ein Gemälde vom heiligen Antonius in Cuzco, entstanden etwa um 1750 und niemals gesäubert, verbarg ihrer Meinung nach etwas - eine Schlussfolgerung, zu der sie schon nach drei Minuten ohne Schwarzlicht oder andere technische Hilfen gelangt war. Wieder einmal erwiesen sich die Umstände als förderlich für ihre Intuition. Das Werk war in einem schlecht beleuchteten Teil eines Antiquitätenladens in Rio aufgetaucht. Es besaß eine seltsam verkrustete Rückseite und eine einzige Signatur, die allerdings unlesbar war. Doch die Art der Tinte und der charakteristische Schwung erinnerten Margaret an etwas. Sie hatte die gleiche Signatur auf der Rückseite eines Giorgione in einem Schloss in Liechtenstein gesehen. Abermals erwies ihre Einschätzung sich als begründet, es existierte tatsächlich ein weiteres Gemälde unter dem Bild, und zig Millionen Dollar gingen danach bei diversen Versteigerungen von Hand zu Hand.
    Sie hatte noch zwanzig Minuten Zeit bis zur Landung, zehn Minuten bis zu dem Zeitpunkt, an dem darum gebeten würde, sämtliche elektrischen Geräte auszuschalten. Margarets Finger rasten über die Tastatur, als sie einige persönliche Notizen eintippte: weitere Informationen über Engelbert suchen - Bodleian Library, Bibliothèque Nationale, Getty, Morgan; alle Bilder des Codex Vindobonensis 1857, Wien, herunterladen; neue Kommentare suchen zu: Namenstage von Heiligen, heilige Sakramente, Bekenntnisse, Schmerzen, Kontemplation, weitere Angaben zu Bordüren, optischen Täuschungen, Illusionsmalerei ...
    Sie bestellte sich eine Tasse Kaffee und setzte sie ab, als per Durchsage der Landeanflug der Maschine angekündigt wurde. Sie schloss ihren Sitzgurt, warf einen Blick auf ihr iPhone und klappte schließlich ihren Apple-Laptop zu.
    Während der Passagierjet Kurs auf Genf nahm und die Alpen aus dem Dunst auftauchten, konzentrierte Margaret sich nicht auf die Turbulenzen, von denen sie erfasst wurden, als sie durch riesige Quellwolken flogen, sondern auf einen ganz anderen dreidimensionalen Raum, den sie im Zuge der Recherchen für ihre Dissertation untersucht hatte. Es war jener Raum, den Künstler wie der unbekannte Meister der Maria von Burgund in Folge verschiedener Meditationen erfunden hatten. Diese Grübeleien befassten sich mit der Natur und dem Paradies und gipfelten in einer neuen Verehrung der Landschaft, deren Farbgebung all jenen Momenten Rechnung trug, die als heilig oder als Ausdruck christlicher Frömmigkeit dekretiert wurden, sowie den sieben Gebetszeiten an jedem Tag von Matutin und Laudes bis zur Vesper und zur Komplet. Sie bezogen sich auf die Stationen des Kreuzwegs, auf die Jungfrau und auf all jene zahllosen Ausdrucksformen, die mit Tod und Begräbnis assoziiert werden. Diese Schätze markierten den Beginn der Naturmalerei. Das Christentum war dazu übergegangen, Perspektive und Ästhetik als Mittel tiefer Verehrung von Tieren, Wäldern und Blumen einzusetzen, und machte zum Beispiel die Rose zum populärsten Sinnbild für Romantik in der Geschichte

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