Bestiarium
Kongregation, jeden Spender, jede Absolution, jede Konvertierung, jede Geburt und jeden Todesfall auflisteten. Nur selten war Pater Bruno nach ihrem Inhalt gefragt worden, und nur ein einziges Mal während seiner Amtszeit hatte ein Nachfahre um ein bestimmtes Zertifikat von geringer Bedeutung gebeten.
Die erste lange Reihe bestand aus Aktenschränken. Es waren schmutzige Glasbehälter, vollgestopft mit losen Einbänden, Stapeln von Quittungen in teilweise vermoderten Ordnern, bedeckt mit Staub und Spinnweben voller Fliegenkadaver. Irgendwann muss jemand hierherkommen und gründlich aufräumen, dachte er, als er frustriert die Unordnung betrachtete.
Zwei Ratten flüchteten in die Dunkelheit.
Einige Knochen, offenbar Überreste von Hühnern, moderten vor sich hin. Ekelhaft, dachte er. Weiter zur nächsten Reihe und dann zur nächsten. Stapelweise Hauptbücher mit Buchhaltungsunterlagen, die zurückreichten bis zu den ersten Tagen der Kirche in der Renaissance.
Und da war er, auf einem Tisch, halb vergraben unter anderem Gerümpel. Ein kleiner verrosteter Metallkasten.
Er fand eine Zange und rückte damit dem ebenfalls verrosteten Schloss zu Leibe. Es schnappte sofort auf. Ein unbeschrifteter, nichts sagender Umschlag. Er benutzte ein Messer, um ihn vorsichtig aufzuschlitzen und das Siegel zu erhalten, ein wundervolles Oval aus karneolfarbenem Wachs, das die Jahrhunderte überdauert hatte. Eingraviert in das Wachs war eine runde Scheibe, knapp einen Zentimeter groß und von einem Adler mit zwei Köpfen und halb ausgebreiteten Flügeln umschlossen. In den Klauen hielt er zwei Königszepter und zwei Schwerter.
Toison d'or ... das Goldene Vlies. Ein Ritter mit einem Schild in der Form eines Einhorns ...
Und da war ein Brief auf Französisch, geschrieben mit dunkelblauer Tinte:
Cher Père,
Tous les animaux naissent librement,
pourtant vivent partout asservis.
Excepté ici, au centre du monde.
Je vous suis endetté.
J.J. Rousseau, Dijon, 1766
Au centre du monde ... Jetzt erinnerte er sich.
Er erinnerte sich an die Tage, als er in seiner Zelle meditiert, studiert, sich auf die Priesterschaft vorbereitet hatte. Und stets war da die quälende, ungewisse Möglichkeit, ein von den armseligen, auf naive Weise hoffnungsvollen Novizen geteilter Glaube, dass das Paradies nicht nur für jene existierte, die im nächsten Leben gesegnet waren, sondern hier, jetzt, in dieser Welt.
Rousseau hatte es in seinem Contrat social und im Jahr davor in einem einzigen Bekennerbrief, von dem die Nachwelt nie etwas erfahren hatte, richtig erkannt. Nicht nur der Mensch, sondern auch die Tiere, frei geboren, lagen überall in Ketten. Seine benediktinischen Mitbrüder hatten sich dem Sensenmann, der seit dem Sündenfall durch die Welt zog, widersetzt und Maßnahmen ergriffen, um alles zu schützen, das echt und rein und gut war, jedenfalls war es das, was man sich erzählte ... Ein Ort irgendwo in Ostfrankreich ...
Offenbar war Rousseau dort gewesen.
Und nur zwei Stunden zuvor hatte er, Pater Bruno, wie ein hoffnungsloser Narr Inspektor Simon die Lage dieses Ortes verraten.
»Gnädiger Gott!«, murmelte Pater Bruno verzweifelt und starrte die Christusfigur an.
»Was habe ich getan?«
KAPITEL 40
H ubert Mans gab Gas, um den verdächtigen Fahrzeugkonvoi einzuholen, als sein Renault auf einem morastigen Seitenstreifen ins Schleudern geriet. Der Motor des leichten Fahrzeugs begann zu stottern, dann verstummte er, während der Wagen seitlich an einem geparkten Müllwagen entlangschrammte und mit knapp fünfzig Stundenkilometern gegen einen Eichenstamm prallte.
Eine plötzliche Stille, angefüllt mit Dampf und dem heftigen Prasseln des Regens, der sie wahrscheinlich vor dem Ausbrechen eines Feuers oder eine Explosion bewahrte, senkte sich auf das Autowrack herab, aus dem die Männer eilig herauskrochen.
»Tut mir leid«, stotterte Mans ziemlich kläglich.
»Sind Sie in Ordnung?«
Beide Männer hatten leichte Prellungen und Blutergüsse davongetragen. Das alte Auto war nicht mit Airbags ausgestattet, aber ihre Sicherheitsgurte hatten sie zweifellos gerettet und vor Schlimmerem bewahrt.
Jean-Baptiste Simon rief Le Bon an und schilderte ihm ihre Lage. Le Bon hatte bereits Informationen über das Kloster eingeholt und die nächste französische Polizeistation um Hilfe gebeten. Zahlreiche Gendarmen in der Gegend waren noch immer damit beschäftigt, den Fundort von Jimmy Serkos geborgenem Wagen und seine Leiche auf Spuren zu
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