Bestiarium
trugen die Bezeichnung »Gletscherrand der Kleinen Eiszeit«, obgleich der Klimawechsel das Gebiet ökologisch bereits zwanzigtausend Jahre vor der so genannten Zeitenwende abgeschnitten hatte.
Auf den Überresten des Klosters erhob sich ein mächtiges Château, ein imposantes Bauwerk, wie man es in Paris oder Versailles erwarten würde. Ein-Meter-Auflösung. Fokussiert auf den östlichen Teil eines Berghangs, weit entfernt von jeder größeren Straße. Aber da war ein Feldweg, wo einst eine römische Straße verlaufen war, breit genug für Fahrzeuge. Und, deutlich erkennbar, eine Mauer, die sich in weitem Bogen von Norden nach Süden erstreckte, laut Berechnung weniger als dreißig Kilometer lang, genauer gesagt fünfundzwanzig.
Felsformationen und ein Waldgebiet mit weitaus höheren Bäumen waren auf der höchsten Erhebung des Anwesens zu erkennen.
»Was ist das?«, fragte Le Bon.
»Kalksteinhöhlen«, antwortete Maggie.
»Nein, links davon.« Le Bon tippte mit dem Finger dort auf den Bildschirm, wo dunkle Schatten zu erkennen waren.
»Schatten«, meinte Fabritius Cadiz.
»Ja, Schatten«, wiederholte Maggie. »Einfach zu messen, einen Moment ...« Sie verschob das Vergrößerungsfeld ein wenig und rechnete. »Was ist der höchste bekannte Baum in Frankreich?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Le Bon.
»Dieser ist hundertfünfundzwanzig Meter hoch, und wenn ich nicht völlig schiefliege, dürfte er der höchste Baum der Welt sein.«
»Eucalyptus regnans«, konstatierte Julia Deblock, die in der Nähe stand.
»Gefunden in Tasmanien. Nicht in Frankreich.«
»Was ist mit Mammutbäumen?«, fragte Le Bon.
»Nicht in Frankreich«, erwiderte Cadiz. »Oh, warten Sie, es gibt einen in der Nähe des Crillon auf dem Place de la Concorde vor der amerikanischen Botschaft. Ein Geschenk an die Bewohner von Paris. Und noch ein paar andere hier und da, wenn ich mich recht erinnere.«
Le Bons Kollegen zuckten die Achseln.
»Ich bin kein Dendrologe. Ich kann Ihnen nicht sagen, was für ein Baum das ist. Es gibt über einhunderttausend bekannte Baumarten, und wir sind nicht so vermessen zu behaupten, dass wir die meisten kennen. Wir haben ein ziemlich umfangreiches biologisches Identifikationsprogramm, das wir vom IGBP übernommen haben.«
»Was ist das?«, fragte Cadiz.
»Das Internationale Geosphären-Biosphären-Programm. Sie haben ein Mapping-System, das auf monatlichen Phantombildern von rund zwanzigtausend Beobachtungspunkten überall auf der Welt basiert, die mit unterschiedlichen Wellenlängen, rot, infrarot und so weiter, hergestellt werden. Unter Benutzung der dort gewonnenen Daten modellieren, messen und suchen wir verschiedene Arten von Reflexionen, Leuchtkraftwerten, Variationen im prozentualen Verhältnis von geschlossenen und offenen Waldformationen und so weiter. Es gibt alle möglichen Arten ökologischer Algorithmen, die eine ziemlich vollständige Liste globaler Habitate liefern. Was Sie hier sehen, ist ein zusammengesetztes Infrarotbild mit
Bestimmungsparametern für ein breites Flora- und Faunaspektrum. Vögel im Flug sind nicht so günstig. Tiere, Insekten, Fische, nun, nur wenn wir das Glück haben, sie als dreidimensionales Objekt zu erfassen. Das kommt nur selten vor, wenn sie in Bewegung sind.«
»Was ist mit all diesen kleinen leuchtenden Punkten an den Astspitzen? Was könnte das sein?«, fragte Le Bon.
»Ich könnte mir denken, dass es so etwas wie Blumen sind«, sagte Maggie.
»Dann wäre das eine Bestätigung der Blauen-Eukalyptus-Theorie«, sagte Julia Deblock. »Soweit ich weiß, blühen Mammutbäume nicht.«
»Ich habe noch nie einen Mammutbaum gesehen, also kann ich dazu nichts sagen«, gestand Maggie.
Und kaum hatte Maggie geendet, machte Cadiz auf etwas anderes aufmerksam, einen merkwürdigen, sich langsam bewegenden Schatten. Bei genauerem Hinschauen waren zwei separate Körper zu erkennen, die sich nebeneinander auf einem Ast des höchsten Baumes aufhielten. »Was ist das?« Er fuhr mit dem Zeigefinger über den Bildschirm.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Julia Deblock.
Cadiz vergrößerte das Bild. »Es sind anscheinend ... Gliedmaßen?«
»Ameisenbären?«
»Nein. Das ist ein Riesenfaultier. Und gleich zwei davon. Ich habe so ein ähnliches Tier mal auf dem Discovery Channel gesehen. Aber das war eine digitale Nachbildung.« Cadiz sah seine Kollegen mit einem Ausdruck der Hilflosigkeit an.
KAPITEL 48
L uis Adornes, Margaret und Martin kamen an Michelangelos
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