Bestiarium
Madonna mit dem Kind vorbei, geschaffen im Jahr 1504 und von Italien nach Brügge geschafft, das einzige Werk, das zu Lebzeiten des Künstlers von einer fremden Nation erworben wurde. Sie gingen hinaus, vorbei an der Heilig-Blut-Basilika und an den belebten Rozenhoedkaai am Rand der Kanäle. Sie überquerten die Dijver Straat und passierten das Groeninge-Museum, wo Margaret sehr oft das Porträt ihrer Namensvetterin studiert hatte - Margaretta, die Frau Jan van Eycks - und die Madonna des Kanonikus Georg van der Paele, eines der berühmtesten Gemälde der Welt. Sie hatte tatsächlich einige Ähnlichkeit mit der Frau des Künstlers.
Und dann betraten sie das Gruuthuse, wanderten an einer alten Guillotine vorbei und gelangten schließlich in eine Bibliothek, die für Angestellte und wissenschaftliche Besucher reserviert war.
»Darf ich?«
Martin reichte Luis Adornes den Schlüssel, sodass dieser ihn in das Schlüsselloch einer bleigefassten Glastür stecken konnte, hinter der sich die Drahtgeflecht-Bücherregale aus dem frühen 18. Jahrhundert befanden. »Bingo!«
Die Glastür schwang auf.
»Das kann doch unmöglich so einfach sein!«, rief Martin aus.
Das war es auch nicht. Die drei starrten auf mehrere tausend Bücher.
»Wonach suchen wir?«, fragte Adornes. Er kannte einige, ganz sicher nicht alle, der Bücher, die dicht an dicht nebeneinanderstanden und viele hundert Jahre alt waren.
»Ein Buch«, erklärte Margaret. »Gewiss haben Sie ein Verzeichnis der Bücher, eine Titelkartei ...«
»Es ist alles im Computer.«
»Können Sie es uns zeigen? Das dürfte viel effizienter sein.«
»Natürlich.«
Er ging voraus durch einen Flur zu einem Fahrstuhl, benutzte eine gestreifte Magnetkarte als Schlüssel und fuhr mit ihnen zwei Stockwerke höher.
In seinem Büro stapelte sich die Arbeit in Gestalt von Bergen von Katalogen aktueller Kunstausstellungen überall auf der Welt, Karteikarten und Dokumenten verschiedenster Art. Sein Computermonitor ließ sich auf einem Teleskoparm aus einer Wandnische herausfahren.
Adornes tippte ein Passwort ein, ließ den Cursor an den Listen des Museums entlangwandern und öffnete dann eine Liste, in der jede der 127 000 Handschriften aufgeführt war, von denen etwas weniger als 1500 in dem Schrank aufbewahrt wurden, den er geöffnet hatte.
»Wonach genau suchen Sie?«
Margaret überlegte einige Sekunden lang. »Nach irgendetwas aus dem Skriptorium in Gent?«, fragte sie sich laut. »Oder nach seinem Pendant in Brügge.«
»Aha, Sie suchen nach Simon oder Alexander Bening.«
»Dem Meister der Maria von Burgund«, gab sie zu.
»Ja, wir haben eine Seite. Aber sie befindet sich nicht in der Bibliothek. Ich dachte, Sie sprachen von einem bestimmten Buch.«
»Warten Sie einen Moment.«
Margaret setzte sich und begann, das Bibliotheksverzeichnis durchzugehen. Sie wusste genau, was sie nicht suchte - 127 000 Objekte, die nicht dem entsprachen, was sie zu finden hoffte. Sie ließ die schier endlose Liste auf dem Monitor hinunterscrollen. Psalter. Breviere. Miniaturen. Einzelne Blätter. Les Principaux Manuscrits à Peintures des Princes Czartoryski. Fragmente eines Rahmens. Zeichnungen von Popham. Le Livre d'Heures de Phillipe de Clèves , mehrere Initialen. Nun kam sie ihrem Ziel möglicherweise näher, YY, Meister des Dresdener Stundenbuchs, Werkstätten, Hofmaler, Randverzierungen - ein Sammelsurium von faszinierenden Teilen eines Puzzles. Unglücklicherweise war jedes Stück katalogisiert und beschrieben, sodass ein Zufallsfund ausgeschlossen war.
Bis auf eins. ID 1292a. Buch in Schuber. Mehrere Autoren. ITRE.
Margaret starrte die Zeile an, neben der ihr Cursor blinkte. »ITRE?«
Adornes folgte ihrem Blick und schüttelte ratlos den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.«
Er tippte das Schlagwort ein. ITRE?
Item Relocated - Objekt ausgelagert. October 17, 1793.
»Interessant. Ich habe diese Bezeichnung noch nie gesehen. Und ich bin schon seit über zehn Jahren hier.«
»Das war auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution.«
»Tatsächlich. Bei dem Datum klingelt es bei mir.« Er gab es in Google ein. »Sehen Sie mal, die Woche von Marie Antoinettes Enthauptung.«
»Welcher Tag genau?«, fragte Martin, dessen Interesse plötzlich geweckt wurde.
Adornes suchte abermals. »Ah, das war am 16. Oktober.«
»Wie lange hat es damals gedauert, bis eine Nachricht aus Frankreich in Antwerpen eintraf?«, hakte Martin nach.
»Stunden«, sagte Margaret. »Mit Reitern von Dorf zu
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