Bestiarium
interessanter Gedanke. Ja, die gibt es. Das Museum ist heute geschlossen, es sei denn, diese Angelegenheit ist dringend.«
»Die ist es, sogar sehr«, erklärte Margaret.
In Antwerpen war Mittag. Le Bon hatte sich per Videokonferenz mit einem halben Dutzend Agenten des IWS beraten und die Untersuchungsergebnisse Deblocks, seines Assistenten Cadiz und anderer ausgewertet, um in Erfahrung zu bringen, was zum Teufel in Burgund im Gange war. Die eingehenden Antworten waren eher verwirrend als erhellend. Wie, fragte Le Bon, hatte inmitten von dreitausendvierhundert Kilometern markierter Straßen und Wege Naturfreunden, örtlichen französischen Steuerbehörden, Nationalparkbiologen und der französischen Regierung dieser bewaldete weiße Fleck auf der Landkarte entgehen können — ganz zu schweigen von einer vermissten Person namens Edward Olivier, Professor Edward Olivier, dessen Familie offensichtlich Hunderte Jahre alte Besitzrechte an diesem größten aller Landgüter in ganz Frankreich innehatte?
Dann waren da der Bruder und der Sohn. Such- und Abhörmaßnahmen der höchsten Zuverlässigkeitsstufe von Interpol hatten sowohl James' letzte iPhone-Nachrichten als auch diejenigen, die von Martin Oliviers iPhone und dem seiner Frau Margaret kamen und dort eintrafen, zutage gefördert.
Was noch ein wenig schwieriger war, kam jetzt als elektronisches Dossier von einer unbekannten Quelle irgendwo in den unergründlichen Tiefen von Interpol in Brüssel oder Paris. Le Bon hatte keine genaue Kenntnis, wo genau die Satellitenaufklärung gesteuert wurde, doch dort auf dem Plasmabildschirm wurde soeben das Ergebnis von ein oder zwei Stunden Arbeit heruntergeladen. Während Le Bon gespannt auf den Bildschirm schaute, klingelte sein Bürotelefon.
»Ja? Ah, oui, es kommt gerade.« Es war die leitende Beamtin, die die Bilder im JPEG-Raw-Format übermittelt hatte. Die angenehme Stimme einer jungen Frau. Le Bon, seit viel zu vielen Jahren Junggeselle, stellte sich vor, dass sie sicher sehr hübsch war.
»Wie heißen Sie?« Er schaltete die Freisprecheinrichtung ein.
»Maggie.«
»Irin?«
»Das ist wohl nicht zu überhören. Aus Cork. Sind die Bilder angekommen?«
»Gerade eben. Ich habe unsere ganze Gruppe zusammengetrommelt.«
Le Bon, Cadiz und Julia Deblock drängten sich um seinen neuen Computer, mit dessen Bedienung Le Bon sich erst vor Kurzem vertraut gemacht hatte.
»Was sollen wir jetzt tun?«
»Öffnen Sie jedes Bild, zwanzig Megabytes, und fangen Sie oben links an.«
Le Bon folgte der Anweisung. »Aber ich sehe nur eine Wolkendecke.«
»Ja. Machen Sie weiter.«
Le Bon klickte auf die folgenden Bilder und erhielt das gleiche Ergebnis. Einen Beinahe-Schneesturm, von oben betrachtet, nach dem anderen, jedes Bild mit einer Dateinummer, einem Datum und Informationen über seine Herkunft versehen. USGS-Eros, Landsat 7, Aster, Iconos, Maryland Cover, Landsat 6, Landsat 5, Landsat 4 ... alle gleich. Und die Datumsangaben gingen zurück bis 1987.
»Das verstehe ich nicht.«
Aber Maggie verstand es. Jedes Bild, aufgenommen im Abstand von neunzig Minuten über mehrere Jahre, zeigte die Region mit dem schlechtesten Wetter des Landes. Entweder das, oder die Aufnahmen waren ständig zum ungünstigsten Zeitpunkt gemacht worden. »Haben Sie schon das letzte angeklickt?«
»Tue ich gerade ... aah! Tout alors.«
Ein Foto von SPOT (Système Probatoire d'Observation de la Terre), aufgenommen um 9:45 Uhr vor zwanzig Jahren in Infrarot. Die einzigen dreißig Sekunden guten Wetters von 116 800 Bildern.
»Halten Sie es fest, oder vergrößern Sie es, was immer Sie mit solchen Bildern tun.«
Sie drängten sich um den großen Bildschirm und betrachteten den ersten sonnigen Morgen in zwanzig Jahren. Es war ein Wolkenfenster, durch das ein sattgrünes Laubdach zu sehen war.
»Was sehen wir?«, fragte Cadiz.
»Einen durch und durch gesunden Wald, würde ich sagen. Ich nehme an, einen Nationalpark.«
»Nein. Privatbesitz.«
»Nun, das ist beeindruckend. Sehen Sie mal.«
Maggie zoomte mit dem Cursor auf verschiedene Bereiche des Bildes und machte sie aufmerksam auf ausgedehnte Erlen- und Kastanienhaine, Reste alter Weideflächen und möglicherweise auch Weinbaugebiete, römische und mittelalterliche archäologische Schichten sowie ein Kloster, wahrscheinlich von den Zisterziensern, da Cluny in der Nähe lag. Diese »Kategorien« waren auch ohne die notwendigen Erklärungen der Computerexpertin zu erkennen. Zwei Täler im Osten
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