Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
Kind umgebracht hatte, auch das andere Kind erschlagen haben könnte. Andere meinten, dass das elfjährige Kind ähnlich aussehe wie die 20-jährige Frau. Andere wiederum argumentierten, dass die Tötungshandlung ganz anders war, dass das Kind erschlagen wurde und die beiden ersten Opfer erdrosselt. Entscheidung über Entscheidung, aber keine Vergleichsfälle. Aber nach und nach erkannte ich, dass der Ansatz nicht unbedingt falsch war. Das Prinzip, dass menschliches Verhalten eine Veränderung an der Umwelt durchführt und dass mit entsprechenden Spezialisten diese Veränderung festgestellt, festgehalten und auch begutachtet werden kann, zeigte sich mir zum ersten Mal bei der Durchsicht der Unterlagen. Rechtsmediziner, Tatortfotografen, Faserspezialisten, Leute, die Fußspuren untersuchten und Vergleichsschuhe herbeischafften, Toxikologen und Kriminalisten, sie alle untersuchten kleine Bausteinchen, sie fanden etwas und verglichen es. Das Gleiche musste auch ich tun, nur mit den Entscheidungen. Ich konnte die Handlungen aber nur mit jenen Delikten vergleichen, die gleiche oder ähnliche Entscheidungen beinhalteten. Ich musste Delikte suchen, wo ebenfalls ein kleines Kind erschlagen worden war, das in Bauchlage bekleidet im Wald lag. Ich musste Delikte suchen, wo junge Frauen erdrosselt und in einer degradierenden Art und Weise abgelegt worden waren. Ich musste Wichtiges von Unwichtigem trennen, und vor allem musste ich jene Entscheidungen heraussuchen, die rein pragmatisch waren, also dazu getroffen worden waren, das Tötungsdelikt zu begehen, und mich nicht auf jene konzentrieren, die unüblich, außergewöhnlich und unter Umständen gar nicht vergleichbar waren. Aber all diese Werkzeuge zum Vergleich fehlten mir für die Bearbeitung. Verflucht, ich wusste viel zu wenig!
Schließlich verfasste ich einen zehnseitigen Bericht, hielt meine Gedanken fest, dass eine endgültige Schlussfolgerung nur dann möglich wäre, wenn Vergleichsfälle zur Verfügung stünden, dass die Verhaltensbeurteilung kein Ersatz für eine gut geplante kriminalpolizeiliche Untersuchung darstelle, sondern eben nur ein zusätzliches Hilfsmittel … für die Dauer von zwei Monaten … Diesen Bericht gab ich ab und wartete abermals. Aber ich nützte die Zeit, durchstöberte die Kellergebäude, suchte andere Akten heraus, sprach mit Rechtsmedizinern, drang in die Obduktionssäle vor, beobachtete Rechtsmediziner bei der Arbeit und versuchte mehr Informationen über Stich-, Schuss- und Schlagverletzungen zu bekommen. Diese Verletzungen waren im Prinzip nichts anderes als Veränderungen an der Umwelt, und jede einzelne beinhaltete eine bestimmte Entscheidung … für die Dauer von zwei Monaten …
Irgendwann kam Dr. Ernst Geiger zu mir ins Büro, der sich als stellvertretender Leiter des Wiener Sicherheitsbüros vorstellte. Jurist mit wachem Blick, hochinteressiert, ein brillanter Denker mit der Gabe, das Wesentliche zu erkennen. Er war auch Leiter einer neu eingerichteten Sonderkommission. In dieser Kommission ging es um einen gewissen Jack Unterweger, der im Verdacht stand, in mehreren Ländern zahlreiche Menschen umgebracht zu haben. Es war wie im Film. Ernst Geiger war Jack Crawford und ich war Clarice Starling. Er war der Meister und ich der Schüler. Ernst Geiger teilte mir mit, er hätte meinen Bericht gelesen und diesen an das Bundesinnenministerium weitergeleitet. Scheinbar ganz nebenbei legte er mir einige Tatortbilder auf den Tisch und ging: zwei dicke Mappen mit Bildern, auf denen erwachsene Frauen zu sehen waren, die man in teilweise nacktem Zustand im Wald am Boden liegend fotografiert hatte. Manche Körper waren verwest, andere mit Zweigen zugedeckt. Teilweise konnte man die Drosselungswerkzeuge noch am Hals erkennen. Es lagen Opfer im Wasser und andere am Waldboden, einige mit dem Gesicht nach oben, einige in Bauchlage. Vier tote Frauen. Ermordet im Wald, scheinbar motivlos. Alles Prostituierte. Das Strafrecht kennt für die vorsätzliche Tötung eines Menschen einen Begriff: Mord. Vier tote Frauen im Wald, zwei tote Kinder, eine junge Frau am Baum. Siebenmal Mord!
„Wer einen anderen Menschen vorsätzlich tötet …“
Die juristische Betrachtungsweise kennt scheinbar keinen Unterschied, was die einzelnen Entscheidungen betrifft. Aus psychologischer Sicht muss aber einer bestehen, denn obwohl es sieben getötete weibliche Personen sind, gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Einzelentscheidungen: im Wald, im Haus,
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