Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
die originalstatistischen Berechnungen, die bei den allerersten Untersuchungen der amerikanischen Bundespolizei von einem Mathematiker und Statistiker erstellt worden waren. Ich kramte in den Originalakten von bekannten Serienmördern, sah mir Videobänder an, horchte Tonbandkassetten ab und sprach geradezu mit jedem, der mir über den Weg lief. Solange es zeitlich oder logistisch überhaupt möglich war, bohrte ich mich durch die Bibliothek, suchte Kontakt zum dortigen Rechtsmediziner und belegte Spezialkurse: „Sexueller Missbrauch“, „Tatortbearbeitung“, „Daktyloskopie“.
Ich hatte Nachholbedarf, denn ich hatte nie als Kriminalpolizist gearbeitet. Ernst Geiger ließ mich gewähren, kehrte mit den Ergebnissen im Jack-Unterweger-Fall nach Wien zurück, und ich nützte den Vorteil, dass ich eigentlich niemandem abging. Ich blieb in den Vereinigten Staaten, bohrte und sprach, hinterfragte und sammelte, verglich und analysierte. Langsam wurde mir klar, dass es eine Methodik gab, ein Werkzeug, nach dem ich immer gesucht hatte. Dieses Werkzeug hatte sogar einen Namen …
19.
„Crime Scene Analysis“ oder Tatortanalyse. Es war der Versuch, zunächst jene Örtlichkeiten zu definieren, die in tatkausalem Zusammenhang standen. Die Idee, von jemandem Verhalten zu finden, den man namentlich nicht kennt, der aber die Umwelt verändert, war nicht neu. Sie war nur vonseiten der amerikanischen Kollegen ausgedehnt worden. Sie versuchten von Beginn ihrer Forschungstätigkeit an aufgrund dieser Verhaltensbeurteilung auf die Charaktermerkmale einer Person zu schließen, sogenannte Täterprofile zu erstellen. Daher nannten sie ihre Haupttätigkeit „Profiling“. „To profile a case“ heißt aber im Prinzip nichts anderes als „to analyse a case“.
Ich versuchte nun zaghaft, meine gesamten Beobachtungen in dieses methodische Konstrukt einfließen zu lassen, näherte mich immer mehr den unterschiedlichen Tatorten, versuchte die Abfolge der Ereignisse herauszuarbeiten und Vergleichsfälle zu finden. Ich ersuchte die amerikanischen Kollegen, mir deren Erfahrungswerte aufgrund der Gespräche in den Hochsicherheitsgefängnissen mitzugeben. Ich sprach mit jenem Agenten, der mit Theodor Robert Bundy gesprochen hatte, ich redete mit Leuten, die Edmund Kemper interviewt hatten, ich las die Akten und Biografien aus erster Hand und nahm für mich mit, was ich nur mitnehmen konnte – Wissen und Erfahrung. Immerhin, Bundy hatte über 30 Frauen ermordet, viele wurden nie gefunden.
In einem kleinen Kellerbüro machte ich die Bekanntschaft mit Arthur, einem ehemaligen Polizisten aus Baltimore. Er war als Tatortfachmann in die Verhaltensforschungseinheit gekommen. Sein Spezialgebiet war, Tatorte nach Veränderungen abzusuchen, nach kleinen Dingen, die zwar viele, die am Tatort waren, beobachtet hatten, aber als bedeutungslos wieder verwarfen. Er roch geradezu Veränderungen an einer Örtlichkeit, die tatkausal waren und die Aussagen über Entscheidungen beinhalteten, vergleichbar mit einer Mücke im feuchttropischen Wald, die den Schweiß des Fußgängers auch in vollkommener Dunkelheit anpeilt, um an Nahrung heranzukommen. Leichenveränderungen, Spuren, die alle möglichen und erdenklichen Waffen am menschlichen Körper zurückließen, Schuss- und Stichwunden, Entfernungsberechnungen, Blutstropfen, die ganze Geschichten erzählten über den Ablauf des Verbrechens. Das war die Welt von Arth, wie wir ihn alle nannten. Und für jedes Beispiel, das er erzählte, besaß er ein Bild.
Kisten, ja ganze Schränke waren nach einer bestimmten Logik geordnet, angefüllt mit Tausenden von Lichtbildern von großen und kleinen tödlichen Verletzungen, verursacht von Hunderten unterschiedlichen Gegenständen. Durch Bowlingkugeln hervorgerufene Platzwunden, mit einer darunter liegenden Zertrümmerung des Schädels, fanden sich ebenso in seiner Sammlung wie der 70-jährige alte Mann, der mit über hundert Messerstichen von seinem geisteskranken Sohn umgebracht worden war. Unterschiedliche Auffindungssituationen im Freien, in Gebäuden, im Wasser, beschwert und unbeschwert durch Steine und Betonklötze, zeugten von einer scheinbar unendlichen Vielfalt von unterschiedlichen Entscheidungsmöglichkeiten. Aber eben nur scheinbar. Genauso, wie ich Jahre vorher das unterschiedliche Verhalten von Menschen in tagtäglichen Situationen geordnet und katalogisiert hatte, war Arth dazu übergegangen, die Grundentscheidungen – wer war das Opfer, wie wurde
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