Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
Wissen.
„Unter keinen Umständen“, teilte mir ein hochintelligenter Mann mit, der, soweit wir es überhaupt wussten, eine zweistellige Anzahl von Menschen umgebracht hatte, „können Sie mir meine Erfahrung nehmen.“ Ein Verbrechensanalytiker sollte nie verurteilen, er beurteilt bestenfalls. Es gibt nichts im Leben, was nur positiv oder nur negativ ist.
15.
Im Mai 1992 erhielt ich ein lapidares Fernschreiben des Bundesinnenministeriums aus Wien, dass ich „für die Dauer von zwei Monaten …“ dem Wiener Sicherheitsbüro dienstzugeteilt würde. Die Hochburg der Kriminalistik, die Geburtsstätte der INTERPOL, das Zentrum der Spitzenkriminalisten, Kellergewölbe voll von Akten, Tatortbildern, zuarbeitende Rechtsmediziner – geradezu ein Eldorado für jemanden, der nichts anderes suchte als Verhalten am Tatort. Es war, als ob die halb erfrorene und bereits ausgedörrte Zecke mit einem einzigen Schlag einen Schwall an lebensnotwendiger Buttersäure in sich aufgesogen hätte und allein schon dadurch wiederum in die Lage versetzt wurde, sich für den Absprung freizumachen … für die Dauer von zwei Monaten … Dieser Passus war klar verständlich. Es war eine zeitliche Limitierung. Eine gewisse Zeit lang durfte ich mich laben, durfte meinen Wissensdurst stillen. Aber das Entscheidende war: Ich rückte mit dieser Dienstzuteilung nach Wien näher an die Macht, näher an die Personen, denen ich wiederkehrend – oder, wie es die forensische Psychiatrie bezeichnet, „übernachhaltig“ – auf die Nerven gehen konnte, um etwas umzusetzen, von dem ich überzeugt war. Ich konnte darangehen, ein zusätzliches Hilfsmittel für die Kriminalisten aufzubauen, Verhaltensbeurteilungen durchzuführen, um über einen Menschen etwas zu erfahren, den man nicht kennt, aber den man gleichzeitig sucht, von dem man nicht weiß, wo er wohnt, wie er heißt, aber von dem man unter Umständen die Bedürfnisse erahnen kann, um ihn so auch zu identifizieren … für die Dauer von zwei Monaten …
Ich brach meine Zelte ab, transportierte das Wenige, das ich glaubte, in Wien zu benötigen, dorthin, nicht ohne noch zwei Tage vor meiner Abreise einen Brief des Federal Bureau of Investigation/Quantico, Virginia, in meinem Briefkasten vorzufinden. Der Unit Chief der Behavioral Science Unit, John Douglas, lud mich aufgrund der Vorinformationen, die er erhalten hatte – er bestätigte mir auch in einem späteren persönlichen Gespräch, dass für ihn die Verbindung des zehnjährigen aktiven praktischen Polizeidienstes mit dem Psychologiestudium ausschlaggebend für seine Entscheidung war –, zu einer Hospitation in seiner Einheit in die Vereinigten Staaten ein. Im Schreiben von John Douglas waren sogar Datum und Uhrzeit angegeben, an dem ich mich beim Sicherheitsdienst der FBI-Ausbildungszentrale auf der Marine Corps Base in Virginia zu melden hatte. Und dieses Datum lag dummerweise genau drei Wochen nach jenem Tag, an dem ich mich in Wien beim Leiter des Sicherheitsbüros, Max Edelbacher, einzufinden hatte.
So hungrig und erfroren die Zecke auch ausgehalten hatte, jetzt marschierten ein ausgefressener Auhirsch und ein fettes Wildschwein gleichzeitig unter ihrem Ast durch, um mich mit betörendem Sirenengesang aufzufordern, mich fallen zu lassen.
Wie lehrten mich die Unterstandslosen in den Zellen der Gefangenenhäuser: Ein fast Verdursteter sollte niemals zu viel auf einmal trinken. Langsam, langsam. Ein fast Verhungerter sollte das fette Mahl verweigern und mit dem trockenen Brot beginnen. Langsam, langsam . Und Friedrich Nietzsche lehrt uns, dass wir allzu rasch vergessen, was die Ursachen für unsere Schmerzen waren, was nicht so philosophisch ausgedrückt auch bedeuten kann, dass wir uns kaum mit dem Wenigen zufrieden geben, wenn man uns mehr in Aussicht stellt. Wir verstecken uns regelmäßig hinter einer hechelnden Bescheidenheit, wohl wissend, dass wir alles andere als bescheiden sind.
Nach einem Jahrzehnt der Tätigkeit im Bereich der Beurteilung von Kapitalverbrechen, Dutzenden Gesprächen auch mit Leuten, die mit Betrug, Erpressung und Nötigung ihr eigenes Leben materiell für alle Ewigkeit absichern wollten, weiß ich, dass es etwas gibt, das die schier unendliche Weite des Weltraums ganz leicht in ihrer Dimension übersteigt: die menschliche Gier. Gemäß meiner subjektiven Erfahrung gibt es nichts, was diesen Umstand besser beschreiben könnte als ein einziges Wort: grenzenlos.
Zum Glück war ich damals durch die Gunst
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