Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
schlussendlich in ihrem mit klebendem Schleim behafteten Kelch gefangen zu halten, zu töten und zu verdauen. Die Natur tötet und täuscht, um zu überleben, der Mensch hingegen hat andere Gründe.
Wenn man die Lebensgeschichten all jener Menschen aufarbeitet, die innerhalb ihrer Familie und Bekannten verletzt und getötet haben, dann kommt man zur Überzeugung, dass sie irgendwann einmal aus Mangel an Fähigkeit oder aus Mangel an Möglichkeit zu einer vernünftigen Kommunikation einen Punkt erreicht haben, wo die Sache eskaliert ist …
Auch die Kriminalpsychologie mit der Beschäftigung mit außergewöhnlichen, aber auch alltäglichen Verhaltensweisen gibt uns die Möglichkeit zu erkennen, dass die Kommunikation ein höchst sensibles Gut ist. Ein Gespräch in einer bestimmten Situation, in einer bestimmten Art und Weise geführt, bedeutet Deeskalation, das Gespräch in einer anderen Form geführt, absolute Eskalation. Ursache und Wirkung. Wir sollten uns daher hüten, allzu rasch zu verurteilen, bevor wir beurteilt haben. Und die gefährlichste Form der Tarnung ist der bewusste Versuch, die Schwachstellen des anderen dort auszunützen, wo er am schwächsten ist, denn dann täuschen wir uns selbst.
26.
17.10.2003, 10.10 Uhr
Justizanstalt Fuhlsbüttel, Hamburg
Wie lange hatte ich die Augen geschlossen gehalten? Eine halbe Sekunde, einen Bruchteil davon? Wären sie zu lange zu gewesen, hätte ich es ihm angesehen. Aber würde ich bei diesem Menschen überhaupt etwas bemerken, was er nicht haben will? War er nicht jetzt in der Position dessen, der eine Falle so aufgebaut hatte, dass ein Entrinnen unmöglich war? War er nicht wie ein Schachspieler, der es mit halb geschlossenen Augen genießt, den anderen zu beobachten, um an seinen Reaktionen abzulesen: Ich habe verloren. War es nicht genau das, was viele als höchste Befriedigung empfinden – Macht?
Ich stellte mein Glas ab, wischte mir den Mund ab und starrte ihn wahrscheinlich an. Das Gespräch hatte jetzt eine andere Dimension erreicht. Es ging nicht mehr um Inhalte. Es ging nicht mehr um Wahres oder Unwahres. Es ging einzig und allein um die Fragestellung: Warum trank er seinen Tee nicht? Und es ging um das einfache Faktum, dass ich schon drei Glas getrunken hatte. Basta!
Zunächst suchte ich einfache Erklärungen. Er sprach ja die ganze Zeit, wie konnte er dann gleichzeitig Tee trinken? Aber war das nicht eine jener Strategien, die ich immer und immer wieder beobachtet hatte, sowohl an den Tatorten als auch in den anschließenden Gesprächen, jemanden in Sicherheit zu wiegen, um ihn so weit zu bringen, dass er sich selbst in Gefahr brachte? Um jemand anderen zu Handlungen zu treiben, die er niemals freiwillig tun würde, einzig und allein damit, ihn in falscher Sicherheit zu wiegen?
Hatte nicht Leonard Lake mit seinem Kollegen Charly in den Wäldern von Montana einen Bunker gebaut und (soweit wir es überhaupt wissen) über 30 Frauen entführt, gequält, gefoltert, sexuell missbraucht und schließlich umgebracht? Auf einer Videoaufzeichnung, die wir in der amerikanischen Akademie ausgewertet hatten, hatte er seinem Opfer mitgeteilt, er würde es in zwei oder drei Wochen freilassen und wenn es sich gefügig zeige, würde er das Kleinkind des Opfers, das er ebenfalls entführt hatte, dann der Mutter wieder aushändigen. War sie nicht deshalb geneigt, all das zu tun, was er und Charly von ihr verlangten, obwohl das Kind schon lange tot war?
Bestie Mensch?
Es funktionierte also nicht, mir selbst einzureden, dass alles logisch erklärbar war. Wenn er aber nun die höchste Form der Macht erreicht hatte, was ich mehr und mehr annahm, da ich mir noch selbst mein Getränk zubereitet hatte, da er mir die Wahl zwischen Pfefferminztee und Früchtetee gelassen hatte, ich noch selbst das Wasser eingegossen, umgerührt und in meiner unterkühlten Gier ein zweites und drittes Glas genossen hatte – was dann? Wenn er all das vorhergesehen, antizipiert hatte, war er nun in der absoluten Position. Er konnte warten. Aber warum sollte er warten? Er konnte sich ganz einfach vorbeugen, mir in die Augen schauen und sagen: „Jetzt ist es so weit, Herr Müller.“ Warum sollte er das nicht tun?
„Es gibt Leute, die in Erfahrungswelten leben, die wir nicht betreten können.“
Einen anderen warten lassen bedeutet immer, in einer Machtposition zu sein. Hatte nicht Theodor Robert Bundy, der über 30 Frauen von der amerikanischen Westküste in Seattle, Washington, bis
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