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Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)

Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)

Titel: Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Müller
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osteuropäischer und zentraleuropäischer Fälle zu ein und demselben Verhalten unterschiedliche Erklärungsansätze zu finden, indem ich immer mehr Leute in Hochsicherheitsgefängnissen interviewte. Irgendwann ergab sich für mich ein vernünftiges, abgeschlossenes Bild eines methodischen Ansatzes. Wir mussten den Begriff des Tatortes etwas anders definieren. Es ging nicht mehr um die Erstellung von Charakterbeschreibungen, also um die Erstellung von Täterprofilen. Es ging um die Aufarbeitung der Einzelentscheidungen am Tatort. Es ging um konkrete Ermittlungsansätze über vergleichende Analysen zwischen zwei strafbaren Handlungen, um die Beurteilung von einzelnen Handlungsweisen, um sie verständlicher und erklärbarer zu machen.

24.

    Aus Sicht der Kriminalpsychologie ist ein Tatort all das, wo das Verhalten des Täters aufgefunden werden kann. Das kann ein Briefkuvert, in dem eine Briefbombe steckte, genauso sein wie ein aufgeschnittenes Kalb, das auf der Weide liegt. Der Tatort, an dem eine Leiche aufgefunden wird, beinhaltet ebenfalls Entscheidungen des Täters, und weil kein Tatort einem anderen völlig gleicht, müssen wir im Zuge der Tatortanalyse versuchen, notwendige pragmatische Entscheidungen von scheinbar nicht notwendigen zu trennen. Die Person zu töten, mag nun das eigentliche Motiv sein, sie in einer degradierenden Art und Weise abzulegen, hat nichts mit der Tötungshandlung selbst zu tun und erscheint für einen Außenstehenden als unwichtig. Falsch! Das Bauen einer Briefbombe, das Beschriften des dafür notwendigen Briefkuverts, das Frankieren und Aufgeben an einer bestimmten Örtlichkeit beinhaltet im günstigsten Fall so viele Einzelentscheidungen, dass wir in der Lage sind, über Stärken und Schwächen, eben über bestimmte Bedürfnisse eines Unbekannten etwas auszusagen. Der Täter wählt die Größe, die Farbe und den Umstand aus, ob es sich dabei um ein Fensterkuvert handelt oder nicht. Er kann das Kuvert mit der Schreibmaschine, dem Computer oder mit der Hand beschriften. Er kann es über- oder unterfrankieren. Er kann es mit einer falschen Absenderadresse versehen oder mit gar keiner. Er kann die Briefmarke genau und sauber ins rechte obere Eck kleben oder schlampig um 90 Grad verdreht. Über 50 einzelne Entscheidungen beinhaltet der einfache Arbeitsschritt, ein Kuvert auszuwählen, zu adressieren und aufzugeben. 50 Entscheidungen, die von einem Menschen getroffen werden, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um ein Ziel zu erreichen, um zu täuschen oder um sich zu tarnen. Was wäre, wenn ich genügend Informationen von jenen Leuten hätte, die ebenfalls eine Briefbombe gebaut und verschickt haben? Wenn ich nun einen Briefbombenbauer mit einem anderen Briefbombenbauer vergleichen kann? Den Mörder mit einem Mörder, den Schreibtisch mit einem Schreibtisch, den Zustand eines Fahrzeuges mit einem anderen Fahrzeug?
    „Unsere Persönlichkeit dringt uns jeden Tag aus allen Poren“ , meinte Sigmund Freud.
    So kann das Briefkuvert genauso ein Tatort sein wie das Kalb auf der Weide, das entweder erschossen und dann aufgeschlitzt oder festgebunden und lebend ausgeweidet wurde. Was wann passierte, stellen andere Experten fest. Aufgabe der Kriminalpsychologie ist es, die darunter liegenden Entscheidungen festzustellen, zu definieren und darauf Schlussfolgerungen aufzubauen. Woher stammte die Waffe? Wie lange ließ sich der Täter für sein Verhalten Zeit? Nahm er Körperteile des Opfers mit? Gerade Ablagesituationen von Leichen sind gemäß ihrem Zustand ausgezeichnete Ressourcenquellen, um über Einzelentscheidungen eines Täters nachzudenken. In welcher Position wurde das Opfer aufgefunden? War es nackt oder bekleidet? Lag es in einer degradierenden Art und Weise?
    Bestehende kriminalistische Klassifikationsschemata sagen in der Regel sehr wenig über die eigentliche Motivlage des Deliktes aus. So mag eine alte Frau, die in ihrer Wohnung aufgefunden wurde und deren gesamter Schmuck und das Geld fehlt, zunächst einmal als Raubmord klassifiziert werden. Diese Klassifizierung erklärt aber nicht, warum das Opfer in einer degradierenden Art und Weise abgelegt worden ist und ihm der Täter noch nachträglich ein Messer in das Auge eingeführt hat.
    Das Material der Kriminalpsychologie ist also das Verhalten. Die Entscheidungen, die jemand bei der Durchführung eines Verbrechens getroffen hat. Das Werkzeug, nach dem ich so lange gesucht hatte, war nun die Tatortanalyse. Rein definitionsgemäß

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