Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
wurden unwiderruflich festgehalten. Jahre später gab es Streit zwischen den Eheleuten und es bestand kein Grund mehr, das Alibi aufrechtzuerhalten. Eine neuerliche Aussage bescheinigte, dass der Mann doch nicht zu Hause war, als die alte Frau verstarb, und es kam zum Geständnis. Der Mann wurde angeklagt, verurteilt und zu einer längeren Haftstrafe in ein Gefangenenhaus überstellt. Bei seiner Überstellung übermittelte man auch das gerichtliche Urteil, das Einweisungsgutachten des forensischen Psychiaters aus der Hauptverhandlung, aber keine Details über den Tatablauf, keine Bilder, keine geografischen Informationen. Würden wir denn anders urteilen, ob der Mann gefährlich ist oder nicht, wenn er uns sagt, er habe eine alte Frau in einer Stresssituation erschlagen, weil ihn seit Jahren das Bellen der Hunde genervt und er ein einziges Mal die Nerven verloren habe – oder wenn wir wissen, dass er sich längere Zeit am Tatort aufhielt, die Leiche eröffnete, symbolische Gegenstände einführte, den Tatort reinigte und das Opfer in einer degradierenden Art und Weise zurückließ? Wahrscheinlich würden wir anders urteilen, aber dieses Urteil wäre mehr eine Verurteilung, weil wir abermals das Verhalten einer Person mit unseren eigenen Einstellungen und moralischen Vorstellungen vergleichen würden. Messen bedeutet vergleichen. Hier war nun der springende Punkt, warum wir diese Kurse überhaupt begonnen hatten.
Wir suchen nach ähnlich gelagerten Fällen, bei denen ähnlich gelagertes Verhalten zur Verfügung steht, und vergleichen die Biografien dieser Personen, nachdem sie entlassen worden sind, mit den Biografien anderer Personen, die noch nicht entlassen wurden. So gelingt es uns, Kriterien zu entwickeln, um sagen zu können: Wenn ein bestimmtes Verhalten am Tatort festgestellt wird, das über das notwendige Maß der eigentlichen Tötungshandlung hinausgeht, besteht eine sehr hohe Wiederholungsgefahr. Diese Informationen stellen wir den forensischen Psychiatern zur Verfügung, aber auch die Methode, wie man zu den einzelnen Kriterien kommt.
Es war eine erfrischende Woche, eine informative. Der Austausch unterschiedlicher Disziplinen. Die erste Woche war ausgefüllt mit Fallbeispielen, dem theoretischen Rüstzeug, das Werkzeug der Tatortanalyse musste erläutert und erklärt werden. Anhand von abgeschlossenen Fällen wurden Risikobeurteilungen durchgeführt, rechtsmedizinische Erkenntnisse dargestellt, um daraus Verhalten und Entscheidungen lesen zu können, um diese wiederum zu interpretieren. 16 Leute in einem kleinen Seminarraum und das zu Ostern, das entbehrte bei dieser Thematik nicht einer gewissen tragischen Ironie. Die Realität ist oft tausendmal grausamer als fiktive Gestalten, Romane und Filme.
Da gab es zum Beispiel Udo, einen brillanten Psychiater, einen hochdekorierten Diagnostiker, der alsbald erkennen musste, dass die Professionalität in der Tatortanalyse darin lag, die eigenen Emotionen nicht in den Abgleich hineinzubringen, Verhalten nicht selbst zu interpretieren, sondern es von anderen interpretieren zu lassen.
In einer Pause, es war Donnerstag und der vierte Tag der ersten Ausbildungswoche, beobachtete ich Udo, wie er mit heruntergezogenen Augenbrauen beim Mittagstisch saß und die Kommunikation mit anderen nicht mehr aktiv betrieb. Er schien nachdenklich, in sich gekehrt. Ich sprach ihn darauf an und erkannte bald, was der Grund für sein Grübeln war. „Wie kann ich heute Abend mit meiner Mutter sprechen, Herr Müller, wenn Sie mir in der Osterwoche bei aller Härte der Realität Bilder zeigen, wo ein junger Mann seine eigene Mutter mit Dutzenden Messerstichen durchbohrt hat wie eine Nähmaschine. Das ist nicht der Osterfriede, den ich mir vorgestellt hatte.“
Selbstverständlich entschuldigte ich mich dafür, zu wenig sensibel an die Sache herangegangen zu sein, erklärte, dass das wahrscheinlich ein Einzelfall wäre und ich zukünftig bei der Auswahl des Bildmaterials und der Fälle, die wir in der restlichen Woche noch zu bearbeiten hatten, mehr auf diesen Umstand Bedacht nehmen würde.
Ungeachtet meines ehrlich gemeinten Bedauerns wurde das gemeinsame Abendessen aller Kursteilnehmer am Donnerstagabend zu einem Stakkato von feurig stechenden Blicken, die mir Udo während der Vor- und Hauptspeise zuwarf. Eigentlich, so dachte ich mir, hatte ich die Problemstellung bereits geklärt, trat jedoch abermals den Canossagang an und fragte ihn, ob es immer noch einen Umstand gäbe, der
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