Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
wir neue Wege einschlagen, damit aber auch akzeptieren, auf schmerzlichen Widerstand zu stoßen? Sagte er nicht mit der Inbrunst der Überzeugung, dass wir manchmal fassungslos vor einer mehr als sichtbaren Falschheit, Verlogenheit und Bösartigkeit der Menschen stehen, die nicht fähig sind, in den Geschichtsbüchern den Ausgang ihrer Handlungen vorherzusehen? Er übte Kritik, aber ehrlich gemeinte Kritik, und sie schmerzte. Ich sah es ihm an, dass es ihn schmerzte, und das wiederum schmerzte mich, weil ich bisher keinen anderen Weg gefunden hatte, als die Realität aufzuzeigen, um das möglicherweise Abwendbare zu erreichen. Aber wer Kritik nicht verträgt, gibt zu, dass er sie verdient hat.
Kursteil zwei nannten wir „Cross-Over-Design“. Bob Ressler war eingetroffen und ermöglichte allen Kursteilnehmern, aus seinem Erfahrungsschatz zu schöpfen. Er stellte die Anfänge der Verhaltensbeurteilung dar, zeigte die kulturellen Unterschiede zwischen angloamerikanischen Fällen und europäischen Fällen auf. Wir teilten die gesamte Gruppe und begannen wahrscheinlich mit dem grausamsten Teil für alle Kursteilnehmer, nämlich in das Antlitz der eigenen Unwissenheit zu blicken. Bob Ressler interviewte mit seiner Gruppe einen Mann, der einige Vergewaltigungen begangen und zum Schluss eine Frau mit fast 100 Messerstichen niedergemetzelt hatte. Bevor sie mit ihm sprachen, lasen sie das Urteil und das Gutachten des forensisch-psychiatrischen Kollegen aus der Hauptverhandlung. Meine Gruppe führte eine genaue Tatortanalyse durch, listete die rechtsmedizinischen Fakten auf, analysierte die Zeitfaktoren und zusätzliche Handlungen, die juristisch nicht notwendig sind, um als Mord klassifiziert zu werden. Wir analysierten die darunter liegenden devianten sexuellen Fantasien, den Allmachtsgedanken, ja, aus der Handlung selbst war es uns möglich, die massive sadistische Komponente des Täters herauszuarbeiten. Und dann sprachen wir mit ihm. Anschließend trafen sich die beiden Gruppen wieder und Ressler mit seinen Leuten kommentierte, dass der Mann wahrscheinlich nicht so gefährlich sei, denn es sei zu einer Eskalation gekommen und deshalb zu einem Tötungsdelikt. Meine Gruppe argumentierte ganz anders. Sie teilte den anderen Teilnehmern mit, dass der Täter auf gewisse Fragen zwar unwirsch reagiert hatte, weil man sie ihm noch nie gestellt habe, dann aber geantwortet hatte. Wir teilten der anderen Gruppe mit, dass über 100 Stiche festgestellt worden waren, dass der Täter noch eigenartige Handlungen mit dem Opfer ausgeführt hatte – konträrer konnten die Einschätzungen der Experten nicht sein.
„Es ist nicht entscheidend, was jemand sagt, sondern das, was er tut.“
Tags darauf drehten wir alles um und bei einem anderen Insassen wurde meine Gruppe von der Minute eins an angelogen, weil der Täter relativ rasch herausfand, was wir über sein Verhalten am Tatort wussten, nämlich fast nichts. Stattdessen kam Resslers Gruppe mit zahlreichen Informationen aus dem Interview zurück, die sie zunächst aus den objektiven Fakten analysiert hatten und die im Gespräch bestätigt wurden. Wir kreuzten die beiden Gruppen über zwei unterschiedliche Fälle und gaben ihnen jeweils die gleichen Informationen: Cross-Over-Design.
Dieser erste Versuch einer direkten und interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen der Kriminalpsychologie und der forensischen Psychiatrie schlug ein wie eine kleine Bombe. Aber: Michael Osterheider und ich standen dazu und ließen uns von den schiefen Blicken mancher Fachkollegen nicht nachhaltig negativ beeinflussen. Da gab es Leute, welche die Methodik selbst in Frage stellten, die unwissenschaftliche Vorgangsweise in den Vordergrund schoben. Da gab es jene bürokratisch denkenden Kriminalisten, die der Meinung waren, „der Gedanke des Profilings“ gehöre der Kriminalistik alleine. Es gab eifersüchtige Forensiker, welche der Meinung waren, dass das alles ja nichts Neues sei. Es gab allzu regeltreue Juristen, die uns die Informationen über die Tatorte verweigerten, mit der Begründung, wir hätten Täter zu therapieren und nicht nachträglich als Prozessbeteiligte zu agieren. Und es gab Medienvertreter, die, sekundiert von ein paar willfährigen Unwissenden, mit spitzer Feder so lange auf den Initiator der Verhaltensbeurteilung einstachen, dass der Eindruck entstehen konnte, er sei ein „quengelnder und sich ewig aufdrängender Marktschreier“, der nichts anderes im Sinn hat, als seine eigene
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