Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
war. Er hatte die Informationen, die ein forensischer Psychiater oder Psychologe üblicherweise erhält, wenn ein verurteilter Täter in ein Gefängnis oder in eine forensisch-psychiatrische Anstalt eingeliefert wird. Er hatte eine Urteilsausfertigung, das Gutachten des Kollegen aus der Hauptverhandlung und ein paar medizinische Daten über jenen Mann, der ihm vom Gericht überwiesen worden war. Er konnte aus dem Akt entnehmen, dass der Täter eine alte Frau umgebracht hatte, seine Nachbarin, und im Urteil stand, dass er sie deshalb erschlagen hätte, weil ihm seit Jahren die bellenden Hunde auf die Nerven gegangen wären. Er habe mehrmals interveniert, habe der Frau teilweise sogar geholfen, weil sie gehbehindert war, sie inständig angefleht, doch das Bellen der Hunde auf irgendeine Art und Weise abzustellen.
Es gab manchmal Streit und als er auch noch den Job verloren hatte und bei ihm zu Hause die Problemstellungen sich häuften, die Hunde abermals zu bellen begannen und die alte Frau ihn beschimpfte und demütigte, erschlug er sie mit einer zufälligerweise am Tatort befindlichen Hacke. Warum sollte der Interviewer ihn auch nach einer eröffneten Bauchdecke und einem Hühnerei fragen? Er wusste es ja nicht. Er hatte diese Bilder nie gesehen. Er kannte das Obduktionsgutachten nicht. Er wusste nur, dass die Frau erschlagen worden war, und das erzählte ihm der Täter auch. Er gab sich damit zufrieden, hinterfragte ein paar biografische Daten und stellte schlussendlich fest, dass wohl das Zusammenkommen mehrerer extremer Stresssituationen im Leben des Täters der Grund dafür gewesen war, dass er der Nachbarin, der er auch teilweise noch geholfen hatte, letzten Endes den Schädel zertrümmert hatte. Die wahren Motive der Zerstörung, die darunter liegenden Fantasien, die eigentlichen Bedürfnisse erfuhr er nicht, weder im Gespräch noch aus den Unterlagen, die man ihm zur Verfügung gestellt hatte. Sie blieben verborgen und waren trotzdem evident. „Es ist nicht entscheidend, was jemand sagt, sondern das, was er tut.“
Die erste Kurswoche, die wir nach umfangreichen organisatorischen Vorarbeiten und Informationen an das Innen-, Justiz- und Gesundheitsministerium durchgeführt hatten, war nur scheinbar rein theoretisch. Die Teilnehmer waren alle freiwillig in der Osterwoche zusammengekommen, um sich tiefer mit der Materie der Tatortanalyse vertraut zu machen. Brillante Köpfe der Psychiatrie und der forensischen Psychologie, die seit Jahren in der Diagnostik tätig waren, sahen teilweise zum ersten Mal Tatortbilder. Manche lasen teilweise zum ersten Mal rechtsmedizinische Gutachten und mussten zum ersten Mal mit Erschrecken feststellen, wie viele Informationen ihnen bisher verborgen geblieben waren, weil sie gewisse Unterlagen nicht hatten.
Nachdem die ältere Frau nämlich von ihrem Neffen aufgefunden worden war, kam die Kriminalpolizei, fotografierte und vermaß den Tatort. Spezialisten suchten nach DNA-Material und die Rechtsmediziner befundeten die Verletzungen, begutachteten darüber hinausgehende Blutungen, Hämatome und führten eine Wundaltersbestimmung durch. War das Opfer bereits tot, als dieser Schnitt gesetzt wurde? Welcher Schlag war tödlich? Spezialisten fertigten eine Tatortskizze an und über 100 Lichtbilder zeigten nicht nur das Häuschen von außen, sondern auch von innen, vom Keller bis zum Dachboden. Die Lichtbilder zeigten, dass sich der Täter nicht nur mit dem Opfer beschäftigt hatte, ja, er war sogar in den ersten Stock gegangen, hatte eine Pendeluhr zum Stehen gebracht, das Pendel ausgehängt, mehrere Gegenstände auf Stühlen sehr regelmäßig verteilt. Die Information stieg und stieg mit jeder Minute, zu der unterschiedliche Experten am Tatort anwesend waren, fotografierten, vermaßen, beobachteten und festhielten. Der Mann, der sich später als Täter herausstellte, wurde sogar befragt, weil er der Nachbar war, aber er hatte ein Alibi, allerdings ein falsches. Seine Frau bestätigte, dass er zum Zeitpunkt, als die alte Frau verstarb, bei ihr zu Hause war.
„Es ist nicht entscheidend, was jemand sagt, sondern das, was er tut.“
Der Fall blieb jahrelang ungelöst. Informationen wurden abgelegt, aber sie verschwanden nicht. Die Bilder, die Skizzen, die Fotos der Obduktion, welche die Verletzungen in allen Größen und in ihrem ganzen Ausmaß zeigten. All diese Informationen waren die objektiven Kriterien, aus denen man später Verhalten lesen konnte. Entscheidungen des Täters
Weitere Kostenlose Bücher