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Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)

Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)

Titel: Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Müller
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Glücksgefühl schwelgen lässt, Dinge erfahren zu haben, die neu und äußerst wertvoll sind, nur um schlussendlich mit aller Gewalt auf den Boden zurückgeworfen zu werden, wo die Fratze der Realität einem in einem markerschütternden Schrei entgegenbrüllt.
    Es passierte in einem Gespräch mit Jeffrey Dahmer, der 17 Menschen umgebracht hatte. Es war seine manipulierende Stimme, die Ruhe, die er ausstrahlte, die Form seiner nonverbalen Kommunikation, es waren seine antizipatorischen Fähigkeiten, die Schwächen und auch die Stärken des anderen zu sehen, geschickt ausnützend, als er schlussendlich die Hand auf den Unterarm des Interviewers legte und meinte: „Jetzt werde ich Sie in Bereiche mitnehmen, in denen Sie bisher niemals waren und in die Sie vielleicht auch nicht wiederkehren werden.“ Er tat es und nach dem Interview bereuten beide, dass sie in Bereiche vorgedrungen waren, in die sie gar nicht mehr gehen wollten: die ausformulierte Macht der Tötungshandlung selbst, das Öffnen der Körper, das Drapieren der Leichenteile, die sexuellen Handlungen und die in allen glühenden Farben schillernden Organe der geöffneten Körper. Wir waren zu weit gegangen, aber wir waren zu zweit. Man geht niemals allein in solche Gespräche – üblicherweise.

40.

    Natürlich wusste eine Hälfte unserer Gruppe über die Details am Tatort Bescheid. Sie kannten den rechtsmedizinischen Bericht, die Ausdehnung der Schlagverletzungen am Kopf der alten Frau. Sie hatten sich die Blutspuren sehr genau angesehen. Die Ablagesituation des Opfers: Sie wussten über die Tatsache Bescheid, dass alle Bekleidungsgegenstände aufgeschnitten und zerrissen waren. Sie machten sich Gedanken über die Tatsache, dass der Täter auch noch versucht hatte, den Tatort teilweise zu reinigen, und sie wussten im Detail darüber Bescheid, wie lang jener tiefe Schnitt, der den Unterbauch eröffnet hatte, gezogen war. Sie hatten das Hühnerei mit ihren eigenen Augen gesehen, wie es zwischen den Darmschlingen steckte, und sie waren erstaunt darüber gewesen, dass ein Mensch überhaupt in der Lage ist, eine alte Frau so herzurichten. Neun forensische Psychologen und Psychiater sowie ein Rechtsmediziner hatten unter meiner Anleitung eine genaue Tatortanalyse durchgeführt. Sie hatten sich die Biografie des Opfers angesehen, sie hatten eine Risikobeurteilung durchgeführt, warum gerade diese Frau zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort umgebracht worden war. Sie hatten festgestellt, dass das Opfer unmittelbar hinter der Eingangstüre bereits attackiert worden war, dass der Täter das Messer, welches er zur Eröffnung der Bauchdecke benötigt hatte, zum Tatort mitgenommen und auch wieder von dort wegtransportiert hatte. Die objektiven Kriterien gaben ihnen die Informationen, dass das Hühnerei aus dem Kühlschrank des Opfers stammte und der Täter sich mindestens eine halbe Stunde am Tatort mit dem Opfer beschäftigte, obwohl es bereits tot war. Sie hatten den Planungsgrad bestimmt und daraus auf die Intelligenzstruktur des Täters geschlossen. Diese Gruppe wusste über jedes Detail am Tatort Bescheid. Sie waren gewappnet gegen die billige Lüge des Getarnten, der vielleicht erklären wollte, dass er sich an nichts mehr erinnern könne.
    Der Schnitt war zu gerade, das Hühnerei zu symbolisch, die Reinigungshandlungen zu sauber und das wieder mitgenommene Messer zu planend, als dass sich jemand allen Ernstes an die Tat selbst nicht erinnern könnte. Die Lüge wäre zu plump gewesen, aber sie befragten ihn nicht. Sie saßen stumm im Hintergrund und wunderten sich über die Antworten desjenigen, der die alte Frau umgebracht hatte. Sie lauschten den Fragen und sie lauschten den Antworten. Sie waren angehalten worden, nicht einmal nonverbal, durch ein Nicken, durch eine Geste der Enttäuschung, zum Ausdruck zu bringen, dass sie mehr wussten, als der Täter annahm, und sie fühlten ab einem gewissen Zeitpunkt Mitleid, ja sogar Schuld mit derjenigen Person, die dem etwa 45-jährigen Vollbartträger die Fragen stellte. Sie wunderten sich über seine Höflichkeit, über seine offene Art, über Dinge zu sprechen, über seine einnehmende Art. Ab einem gewissen Zeitpunkt wurde es geradezu zu einer brennenden Begierde, auch eine Frage zu stellen: Warum haben Sie der alten Frau ein Hühnerei in den Bauch gelegt?
    Aber sie taten es nicht, denn sie waren in der zweiten Woche ihrer Ausbildung. Derjenige, der die Fragen stellte, wusste nichts von alledem, was am Tatort passiert

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