Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
eingeführt, auf Leichen platziert oder in geradezu grotesker Weise in Körperhöhlen, die sie selbst geschaffen hatten, eingebettet haben, muss ich dieses Verhalten zweifelsohne nicht selbst ausprobieren, um bei einem neuen Fall eine Erklärung dafür abgeben zu können.
„Messen bedeutet vergleichen.“
Und hier, genau hier sind auch die Grenzen der Kriminalpsychologie zu suchen: wenn nämlich ein Verhalten am Tatort aufgefunden wird, für das es keine Vergleichsfälle gibt. Neue außergewöhnliche Erscheinungsformen, die sich in den bereits angefertigten Klassifizierungsmöglichkeiten und Subunterscheidungen nicht wiederfinden. Und da es kein Verbrechen gibt, das gänzlich gleich ist wie ein anderes, gilt es, vernetzt an die Bearbeitung heranzugehen. Es gibt einzelne Merkmalscluster wie etwa das Einführen von Gegenständen, eine bestimmte Positionierung des Opfers oder ein geradezu identes Verletzungsbild. Aber die Summe der Einzelentscheidungen führt zu einer vollkommenen Individualität, nicht nur des Tatortes, sondern auch der Persönlichkeit desjenigen, der das Verhalten gezeigt hat.
Und hier sollten nun zwei Disziplinen zusammenarbeiten, die eine das Verhalten beurteilend, die andere die Persönlichkeit. Eine fantastische Gelegenheit, beide Informationsquellen zusammenzuführen, um gleichsam in einer sich beständig drehenden und damit umfassenden Betrachtungsweise das dicke Tau zu bilden, das eine Aussage zulässt, ob jemand in Zukunft gefährlich ist oder nicht. Die Gesellschaft hat ein Recht darauf, dass gerade in dieser Fragestellung umsichtig, allumfassend, seriös und abgesichert vorgegangen wird. Absolute Sicherheit wird es nie geben, denn in die Zukunft zu sehen, ist eine Gabe, die niemandem gegeben ist. Aber man kann zumindest den Versuch unternehmen, alles existierende Wissen zusammenzuführen. Ein Seil aus zwei Schnüren gedreht, ist dicker, aber noch nicht tragfähig. So gesellten sich zu unserem forensisch-psychiatrisch-kriminalpsychologischen Kooperationsmodell alsbald Ärzte aus dem Bereich der Rechtsmedizin, der Biochemie, also DNA-Spezialisten, dazu. Wir begrüßten Juristen und forensische Psychologen und immer verwobener wurden die einzelnen Informationen und immer dicker wurde das Tau der grundsätzlichen Erkenntnisse.
Die Augen der Journalisten rollen jedes Mal erwartungsvoll, wenn sie mir die Frage entgegenhauchen: „Bei all den Interviews, die Sie schon geführt haben, ja, können Sie dann so denken wie ein Serienmörder?“ Und meine Antwort ist immer die gleiche enttäuschende: „Nein, das kann ich nicht. Ich kann nur seine Schuhe benützen.“ Woher sollte ich denn auch wissen, was im Kopf eines Menschen vorgeht, der eine Frau aus sexueller Befriedigung heraus ausweidet, der Blut trinkt oder in einem nach dem Tode eröffneten Unterbauch einer alten Frau ein Hühnerei versteckt. Ich kann nicht so denken wie diese Menschen. Ich will es auch gar nicht. Ich kann nur deren Schuhe benützen, wenn ich zu ein und demselben Verhalten genügend viele Täter getroffen und gesprochen habe, die mir ihre Erklärungen zur Verfügung stellen. Es ist eine fortwährende Suche nach eigenartigem Verhalten. Es ist eine fortwährende Suche nach parallelen Erklärungsansätzen. Es ist eine fortwährende Suche nach Erfahrungswelten, die wir sonst nicht betreten können oder auch sollten.
Manchmal überschreiten wir diese Grenze und hoffen, dass wir nicht zu weit gegangen sind. Es ist manchmal ein Albtraum, dem wir lächelnden Gesichtes entgegensehen und zu spät bemerken, wie es Friedrich Nietzsche einmal formuliert hat: „… dass, wenn man zu lange in den Abgrund schaut, irgendwann der Abgrund in einen selbst hineinblickt.“
Nachtfalter, Mücken und Motten umkreisen die Glühbirne und die Kerze, von der sie sich magisch angezogen fühlen. Das Licht und die Wärme strahlen ihnen entgegen und ziehen sie unweigerlich in ihren Bann und immer näher an sich heran. Aber wehe dem Nachtfalter, der zu nahe an die Kerze kommt! Wehe der Motte, die sich auf der glühend heißen Glühbirne niederlässt und deren kleine Beinchen schmorend am heißen Glase kleben bleiben – unfähig, den rettenden Flug zurück wieder anzutreten! Es sind immer wiederkehrende Abgründe, in die wir hineinblicken, aber emotionslos feststellend, nicht wertend und keinesfalls verurteilend. Doch manchmal ist die Tarnung so perfekt, dass sie einen gleichsam mit Engelszungen umgarnt, hochhebt, höher und höher in einem
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