Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
ihn jetzt in seinem wohlverdienten Osterfrieden störe. In aller Deutlichkeit erinnerte er mich daran, dass ich am Nachmittag einen Fall eines Tierschänders gezeigt hatte, der nicht nur Kühe, Kälber, Katzen und Schafe umgebracht und anschließend aufgeschnitten hatte. Als wäre das nicht genug, hatte ich darüber hinaus Bilder gezeigt, wo Kaninchen vom selben Mann malträtiert und ausgeweidet worden waren. „Kaninchen, Herr Müller, und das zu Ostern.“
Ich musste zugeben, dass ich diesen Umstand übersehen hatte. Ich bedauerte es wirklich, schwor ihm Besserung und begann mir am letzten Tag des Kurses wirklich Gedanken zu machen, vor dem Osterwochenende ausschließlich Fälle zu präsentieren, die Udos mehr als beleidigte Seele nicht mehr ankratzen konnten. Aber welchen Kriminalfall präsentiert man, ohne „böse Dinge“ zu zeigen?
Die Erkenntnisse der Kriminalpsychologie kommen nicht zum Tragen, wenn jemand illegal seinen Grenzstein um zwei Meter versetzt hat. Die Erkenntnisse der Verhaltensbeurteilung sind nicht adäquat und einsetzbar, wenn eine Gruppe Jugendlicher in einer öffentlichen Parkanlage Blumenbeete zerstört. Nein, die Erkenntnisse der Kriminalpsychologie werden dort eingesetzt, wo wir die Grenzen der Nachvollziehbarkeit bereits überschritten haben: Mord und Sexualverbrechen, Brandstiftung, Drohung und Nötigung und in all jenen Bereichen, von denen wir uns eigentlich alle wünschen, dass sie gar nicht existierten: Vampirismus und Kannibalismus, sadistische Handlungen, Folterungen und Demütigungen, jene Abgründe, vor denen uns Friedrich Nietzsche warnte. „Wer in den Abgrund lange genug hineinblickt …“ Ich gebe offen und ehrlich zu, am Freitag in der Früh das tiefe Harmoniebedürfnis von Udo vergessen zu haben. Ich wollte den Leuten noch die objektiven Kriterien eines Falles mitgeben, von dem ich wusste (das war mit Michael Osterheider bereits abgesprochen), dass wir denjenigen, der das Delikt begangen hatte, in der zweiten Kurswoche interviewen würden. Ich gab ihnen alle Informationen über ein Tötungsdelikt an einer alten Frau, die in einem Häuschen am Waldrand erschlagen worden war. Der Täter hatte ihre Kleidung aufgerissen und teilweise zerschnitten, hatte versucht, den Tatort zu reinigen, und schlussendlich seinen abweichenden Fantasien freien Lauf gelassen, indem er den Bauch mit einem durchgezogenen Schnitt geöffnet hatte, und in den Gedärmen klemmte ein Hühnerei.
Ich bin davon überzeugt, dass ein persönliches Geständnis von mir, ich hätte eigenhändig eine Bank ausgeraubt, Udo nicht so in Verzweiflung und Wut und zu ehrlich gemeinten tief greifenden Überlegungen gebracht hätte wie der Umstand, dass ich nun ein Tötungsdelikt zeigte, bei dem ein Hühnerei im Spiel war – und das einen Tag vor Ostern. Aber er beherrschte sich. Erst in der nächsten Pause gurgelte er mir seine gesamten Überlegungen, die er sich bis dahin zweieinhalb Tage aufgespart hatte, entgegen. „Herr Müller, mir ist bewusst, dass die Welt schlecht ist. Ich weiß, dass Aileen Wuornos, die lesbische Prostituierte, die in Florida mehrere ihrer Freier erschossen hat, nach dem Gerichtsverfahren sagte: ‚Die Welt ist derart schlecht, dass es mir nicht schwer fällt, von hier zu verschwinden‘, und damit den Urteilsspruch kommentierte, der ihr bestätigte, dass sie unter staatlicher Aufsicht exekutiert wird. Ich weiß, dass vieles schlecht ist, dass Leute umgebracht, Frauen vergewaltigt, Menschen gefoltert und Kinder geschlagen werden. Hören Sie mir zu, Herr Müller. Ich bin auf den Tag genau 100 Jahre nach Sigmund Freud geboren. Meine Profession ist es, Psychiater zu werden, was ich auch geworden bin, aber bei all meinem Wissen präsentieren Sie mir seit mehreren Tagen Dinge, die ich nicht verstehe. Sie präsentieren eine Woche vor Ostern erstochene alte Frauen, aufgeschnittene Kaninchen und eingebettete Hühnereier. Es fällt mir einfach schwer zu glauben, was ich hier sehe.“
Seine Gedanken machten mich nachdenklich. Zeigte er nicht mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit auf, was mich seit Jahren immer wieder beschäftigte? Dass wir in bestimmten Bereichen noch viel zu wenig wissen, dass wir manches vom Existierenden bewusst verdrängen und verschieben, weil wir es gar nicht sehen wollen? Dass wir uns tagtäglich Korsette von selbst gezimmerten Gesetzmäßigkeiten umschnallen, um in logischen Bahnen denken zu können, anstatt die Schwierigkeit auf uns zu nehmen, Neues zu erforschen, indem
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