Bestimmt fuer dich
Dies war kein Lied, zu dem Jane und er jemals getanzt hatten. Aber Daryl Hall war einer ihrer Lieblingssänger gewesen.
Zufall, dachte Lukas. Nichts weiter.
Anstatt noch einen anderen Sender zu suchen, schaltete er das Radio aus. Seinem Schienbein ging es wieder gut. Seine Augen tränten immer noch.
7
»Du fängst doch jetzt wohl nicht an zu flen nen?«, fragte der alte Mann im Rollstuhl.
»Es rührt mich eben, wenn jemand neunundneunzig Jahre alt wird«, erwiderte Lukas.
»Echt erstaunlich, besonders bei dem Essen, das die hier servieren«, knurrte Fritz.
Lukas war daran gewöhnt, dass sich Fritz über alles und jeden beklagte, aber besonders gern über das Altersheim, in dem er seit fast zwanzig Jahren lebte. Lukas konnte das nachvollziehen, aber im Augenblick hoffte er, die Laune des alten Mannes wenigstens ein bisschen aufbessern zu können.
»Willst du nicht dein Geschenk aufmachen?«
»Ich erwarte nichts Besonderes.«
»Ein Glück.«
»Hast dir richtig Gedanken gemacht, was?«
»So was liegt mir nicht.«
Fritz grinste. Dass Lukas sich auf seine Provokationen einließ, machte ihm immer große Freude. Seine zitternden Hände hatten große Mühe, das Geschenk auf seinem Schoß auszupacken, aber aus Erfahrung wusste Lukas, dass man sich besser davor hütete, Fritz zu helfen.
Als er den breiten dunklen Holzrahmen ausgewickelt hatte, schwieg Fritz eine Weile und betrachtete das kleine Schwarzweißfoto in der Mitte. Es zeigte ein hübsches, einfaches Haus, das oberhalb eines weiten Strandes stand, von dem sich das Meer gerade zurückzog. Zwei kleine Jungen in ärmellosen Unterhemden und hochgekrempelten Hosen standen in einer Sandburg und zeigten fröhlich zum Haus hinüber.
»Ich hab’s vergrößern lassen, so gut es ging«, erklärte Lukas.
»Damit ich auch noch was sehe, meinst du?«
»Damit man überhaupt was sieht. Das Original ist schrecklich klein.«
»Was man von diesem Rahmen nicht behaupten kann.«
»So kannst du’s wenigstens nicht so leicht verlegen.«
»Wenn du mir ’ne Kette dranmachst, häng ich’s mir um den Hals.«
Lukas seufzte. »Freust du dich wenigstens ein bisschen?« Er deutete auf die beiden Jungen am Strand. »Du hast mir doch erzählt, wie glücklich du damals warst.«
Fritz zuckte mit den Achseln. »Mein Bruder ist bestimmt glücklicher.«
Lukas schwieg. Er wusste, dass Fritz’ Bruder Herbert schon vor Jahren verstorben war – so wie alle Menschen, die Fritz einmal etwas bedeutet hatten. Dass dies ein nachvollziehbarer Grund war, sich das eigene Ende herbeizuwünschen, sah Lukas ein. Gleichzeitig glaubte er bei jedem seiner Besuche zu erkennen, dass in Fritz immer noch ein letzter Rest an Lebenswille steckte. Wie sonst konnte man erklären, dass der mittlerweile Neunundneunzigjährige so vieles überstanden hatte, was andere längst ins Grab getrieben hätte?
Fritz Gievenbeck hatte den Ersten Weltkrieg als Kind und den Zweiten als kurz nach der Hochzeit eingezogener Mann in den sogenannten besten Jahren überstanden, damit verbunden zwei Schussverletzungen, einen in den Kopf eindringenden Bombensplitter sowie eine Malariainfektion, außerdem in den Jahrzehnten danach einen Motorrad- und einen Autounfall, einen Herzinfarkt und eine zweimal zurückkehrende Krebserkrankung. Inzwischen litt er an chronischen Schmerzen im ganzen Körper, und seine Hände versagten ihm manchmal den Dienst, obwohl die Ärzte dafür keine eindeutige Ursache feststellen konnten.
Abgesehen von den körperlichen Blessuren hatten auch zahlreiche seelische Erschütterungen ihre Spuren hinterlassen. Fritz’ erste große Liebe war noch vor der Hochzeit an einer Lungenentzündung gestorben, seine erste Ehefrau bei der Explosion eines Blindgängers kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Seine zweite Ehe hatte drei Kinder hervorgebracht, war aber an Fritz’ häufigen Seitensprüngen zugrunde gegangen.
Eigentlich hatte er seine zweite Ehefrau nie wirklich geliebt, seine Kinder dafür umso mehr. Ein Gefühl, das diese angesichts seiner geradezu chronischen Untreue gegenüber ihrer Mutter jedoch nicht erwidern konnten. Sein ältester Sohn hatte ihn eines Morgens nach der Rückkehr von einem weiteren Schäferstündchen verprügelt und aus dem Haus gejagt. Seine Tochter hatte ihm irgendwann verziehen, aber ein paar Jahre später aus ihrem eigenen Haus gejagt, nachdem er sich dort mit ihrem aus seiner Sicht untauglichen Ehemann geprügelt hatte. Sein jüngster Sohn, Carl, hatte Fritz aufgrund
Weitere Kostenlose Bücher