Bestimmt fuer dich
dessen häufiger Abwesenheiten schon als Kind kaum gekannt und später kein Interesse mehr gezeigt, den Mann, den alle seinen Vater nannten, kennenzulernen.
Lukas hatte ein paarmal versucht, Fritz’ Nachkom men ausfindig zu machen, um ein Wiedersehen zu erwirken, war jedoch entweder an der strikten beiderseitigen Ablehnung eines solchen Vorhabens gescheitert oder im Fall von Carl daran, dass dieser nach Amerika ausgewandert war und den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen hatte.
Herbert war nach dem frühen Tod ihrer Eltern die einzige Konstante in Fritz’ Leben geblieben. Und nachdem Fritz sich in zahlreichen Berufssparten als Aushilfe über Wasser gehalten hatte, eröffnete er zusammen mit seinem Bruder einen Fotoladen, in dem sie Apparate verkauften und reparierten, Filme entwickelten und Passfotos anfertigten. Der sich im Lauf der Jahre einstellende Erfolg des Geschäfts überraschte beide Brüder, zumal sie über kein besonderes kaufmännisches Geschick verfügten. Dafür hatten sie jedoch genug Charme und Mut, Kunden an sich zu binden und Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Aus einem Geschäft wurde eine ganze Kette, die in mehreren Städten Gewinne einfuhr.
In dieser Zeit verliebte sich Fritz, so wie es seine Art war, alle paar Monate unsterblich, blieb aber die ganze Zeit in jenem Haus wohnen, das er gemeinsam mit Herbert gekauft hatte und das die Brüder an ihr Elternhaus erinnerte, von dem nach Ende des Zweiten Weltkriegs nichts als Schutt und Asche übrig geblieben war. Das kleine Haus am Meer, das ihren Eltern als Feriendomizil gedient hatte, konnten Fritz und sein Bruder hingegen fünfzig Jahre später wieder in ihren Besitz bringen, wenn auch zu einem gnadenlos überteuerten Preis, den jenes Ehepaar verlangte, das ihren Eltern das Haus kurz nach dem Krieg spottbillig abgeknöpft hatte. Doch als die beiden Brüder im folgenden Sommer dort ihren Jahresurlaub verbringen wollten, erlitt Herbert einen Schlaganfall, der sein Sprachzentrum lahmlegte, und innerhalb weniger Tage danach einen zweiten, der ihn umbrachte. Das Haus am Meer blieb deshalb verschlossen, und Fritz fuhr nie wieder dorthin, auch wenn er es sich oft vorgenommen hatte.
»Mein Angebot steht«, sagte Lukas, in Erwartung einer üblichen boshaften Zurückweisung. »Ich würde dich hinfahren, und sei es nur für einen Tag.«
»Kannst du mich mal mit deinem Gutmenschtum in Ruhe lassen? Ich adoptiere dich nicht mehr – wann kapierst du das endlich?«
»Ich weiß genau, dass du gern noch mal dorthin zurück möchtest.«
»Du weißt gar nichts.« Fritz’ Blick ging ins Leere. Lukas war nicht sicher, ob der alte Mann sich in seinen Gedanken verloren hatte oder seinen Besucher loswerden wollte. Viele ihrer Gespräche hatten so geendet. Bereits ihr erstes, um genau zu sein. Die Bitte, über sein schon fast ein Jahrhundert dauerndes Leben einen Artikel schreiben zu dürfen, hatte Fritz nur ein müdes Lächeln entlockt. Beantwortet hatte er anfangs nur die Fragen, die ihm angenehm gewesen waren. Die anderen ließ er in gelassenem Schweigen untergehen. Fritz hatte allerdings nicht mit Lukas’ Hartnäckigkeit gerechnet und auch nicht mit seiner Warmherzigkeit. Als er erkannt hatte, dass Lukas nicht bloß Zeilen füllen wollte, sondern aufrichtig an seinem Leben interessiert war, erlaubte Fritz nach und nach Einblicke in seine Vergangenheit, die ihm manchmal sogar selbst die Augen öffneten.
Bald begann Fritz sich auf Lukas’ Besuche zu freuen. Aber als Lukas erklärte, er wolle nicht nur einen Artikel, sondern ein ganzes Buch über ihn verfassen, begann Fritz sich Sorgen um den jüngeren Mann zu machen. Lukas hatte nämlich auch ihm Fragen über seine Vergangenheit beantwortet und mehr verraten, als Fritz lieb gewesen war. Er wusste daher, dass die regelmäßigen Besuche, während sie ihn zwar freuten und halfen, die Zeit zu vertreiben, für Lukas unverzichtbar waren. Nicht um einen Artikel oder ein Buch zu schreiben, sondern um jemanden in seinem Leben zu haben, der ihn davon abhielt, in seinen eigenen Ängsten und Zweifeln zu versinken. Lukas mochte anderen Menschen gegenüber unfreundlich oder zynisch erscheinen, aber jemand wie Fritz übertraf ihn darin mühelos und konnte ihn deshalb auch in Schach halten. Ohne ihn, so fürchtete Fritz, würde Lukas außer Kontrolle geraten. Diese Aussicht ärgerte Fritz schon deshalb, weil sie ihm Verantwortung aufzwang. Dabei hatte er sich einer solchen sein ganzes Leben lang immer wieder entzogen.
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