Bestimmt fuer dich
Tränen der Hilflosigkeit und Wut ihre Augen füllten. »Es gibt keine Bestimmung! Es gibt kein Schicksal! Wir reden uns das bloß immer ein, weil wir wollen, dass alles einen Sinn macht.«
Lukas nahm sanft ihr Gesicht in seine Hände. »Wenn dir etwas zustoßen würde – wie sollte ich das jemals verkraften?«
Rosanna schwieg. Sie wusste, dass es keine Antwort mehr gab, die ihn von seinem Entschluss abbringen konnte. Und ihre Auseinandersetzung, der ganze Tag und der Abend zuvor hatten sie dermaßen ausgelaugt, dass Lukas kaum noch Gegenwehr spürte, als er sich aus ihrem Griff löste.
Er wagte sich nicht mehr umzudrehen, bis er das Ende der Straße erreicht hatte. In der Dunkelheit konnte er sie kaum noch erkennen, worüber er froh war, weil er sonst dem Drang, zu ihr zurückzukehren, vielleicht nicht widerstanden hätte.
Als er in die Querstraße abbog, ertönte wieder die »Carmina Burana«. Lukas holte sein Handy hervor und nahm einen erneuten Anruf der Heimleiterin entgegen. Sie gab Entwarnung – Fritz war im Garten hinter dem Speisesaal gefunden worden. Sein Rollstuhl hatte sich im Erdboden festgefahren, und aus eigener Kraft war es ihm nicht möglich gewesen, sich zu befreien. Anstatt sofort um Hilfe zu rufen, hatte er jedoch beschlossen, erst einmal den lauen Frühlingsabend zu genießen. Wie die Heimleiterin stolz erklärte, war also alles wieder gut.
Für Lukas fühlte es sich zwar nicht so an. Aber er vermutete, dass die Heimleiterin langfristig recht behalten würde.
Als Lukas in seine Wohnung zurückkehrte, schlief Dominik wirklich ganz klein zusammengerollt auf der Couch. Lukas schaltete den Fernseher aus und ging ins Schlafzimmer, um sich auf das schmale Bett fallen zu lassen. Nach einer Weile setzte er sich wieder auf. Seine Augen brannten vor Tränen, für die er sich hasste. Schließlich gab er seinen Widerstand auf und kniete sich zum ersten Mal seit langer Zeit neben das Bett, um darunter nach einer Schachtel zu fischen. Er setzte sich mit dem Rücken gegen die Bettkante und nahm den Deckel der Schachtel ab. Die darin enthaltenen Fotos von Jane halfen ihm nicht, ruhiger zu werden. Aber sie erinnerten ihn daran, dass seine Entscheidung, sich von Rosanna zu trennen, richtig gewesen war.
Der Laminatboden in ihrem Wohnzimmer war hart und kalt, aber Rosanna nahm das kaum wahr. Nach ihrer Rückkehr in ihre Wohnung hatte sie in ihrem Doppelbett nicht einschlafen können. Ihr Rücken hatte bei jeder Bewegung geschmerzt. Die Matratze kam ihr auf einmal viel zu weich und durchgelegen vor. Außerdem sah sie jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, Lukas vor sich, wie er am Ende der Straße noch einmal zögerte, bevor er endgültig aus dem schwachen Licht einer Straßenlaterne verschwand.
Kraftlos hatte sich Rosanna aus ihrem Bett gekämpft und war durch die Wohnung geschlichen, die sie in ein paar Wochen für ihren Vermieter räumen müsste. Vielleicht war das gut so. Die Zeit, die sie hier mit Lukas verbracht hatte, war zwar kurz gewesen, aber an einem anderen Ort sicher leichter zu vergessen.
Im Wohnzimmer hatte sie versucht, sich auf ihre Couch zu legen, aber auch für sie war sie letztlich zu klein gewesen, sodass sie den Boden ausprobiert hatte. Tatsächlich ging es darauf ihrem Rücken besser. Und als sie die Augen schloss, tauchte auch Lukas nicht mehr auf. Stattdessen musste sie an das Päckchen mit den Tarot-Karten denken. Kira hatte es ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt. Mit dem Mut aus mehreren Gläsern Rotwein hatten sie sich auf diesen Boden gesetzt, Kerzen angezündet und nervös kichernd die Karten ausgelegt. Aber nachdem Rosanna bei drei Durchgängen hinterei nander die Karten »Der Narr«, »Der Gehängte«, »Tod« und »Der Teufel« ausgehändigt bekommen hatte, war bald nicht mehr genug Rotwein da. Und obwohl Kira jedes Mal für sich »Die Liebenden« gezogen hatte, war sie nicht beleidigt gewesen, als Rosanna das gesamte Kartenpäckchen in den Mülleimer pfefferte.
An jenem Abend hatte Rosanna geschworen, sich nie wieder von solchem Aberglauben herunterziehen zu lassen. Heute, knapp ein halbes Jahre später, wollte sie sich das erneut schwören. Die Frage war: Wie lange würde sie es diesmal durchhalten?
Rosanna öffnete wieder ihre Augen. Sie konnte verstehen, warum Lukas Angst hatte, bei ihr zu bleiben. Was er erlebt hatte, musste ein Trauma hinterlassen haben, das durch die Geschehnisse der letzten Stunden zwangsläufig aufgefrischt worden war. Und wenn sie
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