Betörend wie der Duft der Lilien
lief alles nach Plan.
Calliope atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Clio konnte in dieser Menschenmenge eigentlich nichts zustoßen; wahrscheinlich würde der Duke sie nicht einmal finden. Dennoch wollte sie sie gerne rechtzeitig vor ihm warnen. Mit erhobenem Schild bahnte sie sich ihren Weg durch den Saal.
„Ich bin hier, grauäugige Athene“, klang es leicht gedämpft über ihre Schulter.
Hatte der Duke sich schon wieder an sie herangeschlichen? Doch als Calliope sich umdrehte, stand sie keinem Dionysos gegenüber, sondern einem Hermes mit weißem Chiton, Flügeln an den Sandalen und am Helm sowie nackten muskulösen Armen. Das Visier des Helms war heruntergelassen, aber die störrischen dunklen Locken gaben seine Identität preis. Auch Hermes’ Duft – frische Zitrone und darunter eine komplexere Note, die Calliope angenehm an Zimt, Sonne und Seeluft erinnerte – kam ihr bekannt vor.
„Meine Augen sind braun, Lord Westwood“, erwiderte sie. Sie fühlte sich merkwürdig erleichtert; am liebsten hätte sie sich in seine starken Arme geworfen. Dass sie sich so freute, ihn zu sehen, unterstrich nur, wie bizarr dieser Abend verlief.
„Stets der Wahrheit verpflichtet“, sagte er und klappte das Visier hoch, sodass sie sein Lächeln sah. „Woran haben Sie mich erkannt?“
„Am Duft.“
„Am Duft?“
Calliope schüttelte den Kopf. „Nicht so wichtig. Haben Sie vielleicht meine Schwester Clio gesehen?“
„Nicht, das ich wüsste. Als was ist sie denn hier?“
„Oh, sie wäre Ihnen bestimmt aufgefallen! Sie ist Medusa, mit einem grün-goldenen Gewand und Schlangen auf dem Kopf.“
„Sie hat Reptilien mitgebracht? Aber was wundere ich mich: Die Chases haben schon immer einen besonderen Stil gehabt.“
Trotz ihrer Anspannung musste Calliope lächeln. „Vermutlich hat sie nur aus Rücksicht auf meine Schlangenphobie auf lebende Tiere verzichtet. Die Schlangen sind aus Stoff. Mit grünen Glasaugen.“
„Ich fürchte, ich habe keine einzige Medusa gesehen. Stimmt etwas nicht?“
„Ich möchte ihr nur etwas mitteilen, was unseren Gastgeber betrifft.“
Sein Lächeln erstarrte. „Ich habe gesehen, dass Sie sich mit Mr. Dionysos unterhalten haben.“
„Ganz kurz“, erwiderte Calliope vorsichtig. „Er hat mir eine Daphne-Statue gezeigt.“ Die Erinnerung ließ sie erschaudern.
„Frieren Sie?“, fragte Cameron besorgt.
„Ein wenig, ja. Eigentlich unmöglich in dieser Hitze.“
„In einem solchen Mausoleum wird einem nie richtig warm. Kommen Sie, Miss Chase. Ein Tänzchen wird uns beiden guttun.“
Calliope sah, wie sich auf der Tanzfläche neue Konstellationen bildeten. Emmeline war mit Mr. Smithson dort und Thalia mit dem seltsamen Minotaurus. Von Clio weiterhin keine Spur. Ein Tanz würde sie vielleicht vom seltsamen Betragen des Duke ablenken, von der Alabastergöttin und dem Liliendieb, und ihr würde wieder warm werden. Westwood hatte recht: Dieses Haus war ein Mausoleum; nur Musik und Tanz konnten ein wenig Leben hineinbringen.
Vor allem ein Tanz mit Lord Westwood, denn niemand war lebendiger als er mit seinen cognacfarbenen Augen, seiner glatten gebräunten Haut und seiner unverbrauchten jugendlichen Kraft. Nach dem kalten Klammergriff des verderbten Dukes sehnte sie sich nach Wärme – sogar, wenn Westwood die Quelle dieser Wärme war.
Aber heute Abend war er nicht Westwood, sondern Hermes, und sie war Athene. Und dies war auch kein gewöhnlicher Londoner Maskenball, sondern ein altgriechisches Fest – zumindest für die Länge eines Tanzes.
„Vielen Dank, Lord Westwood. Es wäre mir ein Vergnügen.“
8. KAPITEL
Clio warf einen Blick über die Schulter. Niemand folgte ihr in den schmalen Korridor. Vielleicht fiel in diesem Gedränge sogar niemandem ihre Abwesenheit auf.
Das Geplauder und die Musik waren nicht einmal mehr als fernes Rauschen zu vernehmen. Es war still wie in einem unterirdischen Schacht, und auch die wenigen, fackelartigen Lampen, deren Licht über die dunklen holzvertäfelten Wände, die niedrige Schnitzdecke und die Ölgemälde in ihren vergoldeten Rahmen flackerte und die Illusion weckte, die Gegenstände bewegten sich, erinnerten an eine Ausgrabung.
Clio zog ihre hohen Schuhe aus und besah sich ein Gemälde aus der Nähe. Es war ein neueres Werk, ein Minotaurus in seinem Labyrinth: ein großes, ungeschlachtes, haariges Ungetüm mit feuerroten Augen, das in einem Gang herumschlich, der sie an diesen Korridor erinnerte. Ringsum rauchten Fackeln,
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