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Betörend wie der Duft der Lilien

Betörend wie der Duft der Lilien

Titel: Betörend wie der Duft der Lilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: AMANDA MCCABE
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hätten. So viel Schönheit und Gelehrsamkeit. Sollten all diese Dinge wirklich im Boden verrotten und in den Händen von Leuten verfallen, die sie nicht zu schätzen wissen?“
    Calliope musste sich eingestehen, dass er im Grunde nichts sagte, was ihrer Meinung zuwiderlief, doch sein spöttischer Ton und herablassendes Lächeln missfielen ihr. Sie zuckte mit den Schultern und leerte ihr Glas.
    „Kommen Sie, Miss Chase. Ich zeige Ihnen einen der Schätze, die dann für immer verloren gegangen wären.“ Er nahm ihr das Glas ab.
    „Die Alabastergöttin?“, fragte Calliope.
    „Oh nein; das Prunkstück meiner Sammlung wird später enthüllt werden. Im rechten Augenblick.“
    „Ein letzte Gelegenheit, sie zu bewundern, bevor sie weggesperrt wird?“
    „Sie ist doch kein Mädchen, das ins Kloster verbannt wird. Sie wird nur an einen sicheren Ort gebracht, in Anbetracht des Schicksals anderer wichtiger Antiquitäten in London in letzter Zeit …“ Er griff fest nach ihrem Arm und lenkte sie durch die Menge, während er jovial nach links und rechts grüßte.
    Calliope kniff die Lippen zusammen und unterdrückte den Drang, sich von ihm loszureißen. Als Lord Westwood ihr im British Museum seinen Arm angeboten hatte, war es eine warme und leichte Berührung gewesen; jetzt hingegen fühlte sie sich, als habe man ihr kalte Handschellen angelegt. Er führte sie ans Ende des Saals, wo hinter hohen Glastüren eine dunkle Veranda lag. Hier war das Gedränge weniger dicht, die Luft war frischer. Calliope fürchtete schon, er werde sie mit hinaus nehmen, fort vom Licht und Lärm, und dann … ja, was? Sie über die Brüstung in die Tiefe stoßen?
    Unsinn! Er wusste doch gar nicht, dass sie die Alabastergöttin vor dem Liliendieb beschützen und zudem alles in ihren Kräften Stehende tun wollte, um zu verhindern, dass die Figur nach Yorkshire entführt würde. Er wusste nichts von ihrer heftigen Abneigung gegen ihn und von der Sorge um Clio, die sein Verhalten im Museum bei ihr ausgelöst hatte. Dennoch beeilte sie sich, Abstand zu ihm zu gewinnen, sobald er seinen Griff lockerte.
    „Was halten Sie von ihr, Miss Chase?“ Der Duke wies auf eine Statue zwischen den Glastüren.
    Calliope atmete tief durch und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Figur. Wie immer konnte sie sich dem Zauber wahrhaft großer Kunst nicht entziehen: Der Duke und die Menschenmenge verschwanden peu à peu aus ihrem Wahrnehmungsfeld. Die Statue war so erlesen wie alles in der Sammlung des Herzogs und passte auch zu seinem Sammelthema: Gewalt. In diesem Fall war keine Schlacht oder Schlägerei dargestellt, sondern die Verwandlung der Nymphe Daphne in einen Baum, die ihr Vater Peneios bewirkte, um sie Apollos lästigen Nachstellungen zu entziehen. Sie war mitten in der Flucht eingefangen, mit verdrehtem Leib über ihre Schultern blickend. Ihre Arme und Beine verwandelten sich in Zweige, ihr langes Haar ergoss sich wie Wellen über ihren Rücken.
    „Nun, Miss Chase?“
    „Sie ist wundervoll. Dieses Gespür für die Bewegung, der harmonische Übergang vom Fleisch zum Holz: ganz außerordentlich.“
    „Es handelt sich natürlich um eine römische Kopie, aber das tut ihrer Schönheit keinen Abbruch. Ihre Züge erinnern sehr an Ihre Schwester, nicht wahr?“
    Erschüttert sah Calliope den Duke an. Er erwiderte den Blick nicht, sondern streckte den Arm aus und strich mit einer Fingerspitze langsam über Daphnes steinerne Wange.
    Die Ähnlichkeit war frappierend, das musste Calliope zugeben. Das machte seine Verzückung umso unheimlicher.
    „Sie hat denselben Unabhängigkeitswillen“, murmelte der Duke. „Aber früher oder später wird auch sie den Göttern gehören. Sooft sie auch davonläuft.“
    Calliopes Kehle war wie zugeschnürt. Sie musste Clio finden. „Bitte entschuldigen Sie mich“, murmelte sie. „Ich sehe da jemand, mit dem ich unbedingt sprechen muss.“
    Das Gedränge schien sogar noch dichter geworden zu sein: eine wogende Masse aus lachenden, trinkenden Menschen, die sich der albtraumhaften Züge dieses Hauses gar nicht bewusst zu sein schienen. Doch von Clio entdeckte Calliope keine Spur. Thalia tanzte immer noch. Ihr Vater ließ sich nicht blicken; vielleicht hatte er sich mit seinen Philosophenfreunden ins Kartenzimmer zurückgezogen, um bei einer Runde Siebzehnundvier weiterzudiskutieren. Immerhin sah sie Emmeline, die als Pythia kostümiert war, mit einem „ihrer“ Verdächtigen reden. Lächelnd nickte sie Calliope zu: Bei ihr

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