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Betörend wie der Duft der Lilien

Betörend wie der Duft der Lilien

Titel: Betörend wie der Duft der Lilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: AMANDA MCCABE
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und die Steinwände waren mit fremdartigen leuchtenden Symbolen bemalt.
    Der Duke musste diesen Mythos ganz besonders schätzen; Clio hatte im Lauf des Abends mehrere Minotaurus-Statuen und Gemälde bemerkt. Wie der Herzog war auch sie überzeugt, dass in jedem ein Ungeheuer steckte und dass man manchmal in ein Labyrinth eindringen musste, um sich mit dieser dunklen Seite der eigenen Person auseinanderzusetzen. Um der Wahrheit zu begegnen.
    Tat sie nicht gerade genau das?
    Clio wandte sich von dem Ölbild ab und eilte auf Strümpfen ans Ende des Gangs, wo sich eine kleine gewundene Treppe befand. Der Duke hatte niemandem gesagt, wo die Alabastergöttin sich heute Abend befand, aber nicht alle seine Diener waren so verschwiegen wie er: Ein Lakai hatte ihr Artemis’ Aufenthaltsort verraten.
    Oben mündete die Treppe in eine lange Galerie, die sich fast über die ganze Vorderseite des Hauses erstreckte. Alle Fenster standen offen und gaben den Blick auf den Vordergarten, die Straße und das Tor frei, durch das immer noch späte Gäste eingelassen wurden. Die Galerie war mit großen Leuchtern bestückt, in denen nur jede zweite Kerze brannte. Zweifellos sollte die andere Hälfte zur großen Enthüllung nach dem Essen wie von Zauberhand entzündet werden. Noch aber lagen die hier präsentierten Schätze im Halbdunkel.
    Clio hielt den Atem an und pirschte die Galerie entlang. Die Galerie hatte etwas von einem Kuriositätenkabinett oder einem überfüllten Lagerhaus. Antike Männerstatuen, steif und symmetrisch, musterten sie mit leeren Augen. Ein ägyptischer Sarkophag trug noch Spuren seiner ursprünglich grellbunten Bemalung. Bronzekrieger standen neben Marmorgöttern von unübertroffener Lieblichkeit; in Schaukästen häuften sich etruskischer Goldschmuck, Lapislazuli-Skarabäen, winzige Katzenmumien in goldenen Särgen und edelsteinbesetzte Parfümfläschchen. Vasen, Krüge und Amphoren waren auf Regalen aufgereiht: alles kunterbunt durcheinander, um die Eitelkeit eines einzigen Mannes zu befriedigen.
    Clio erschauderte, als ihr wieder einfiel, wie der Duke ihr im Museum so nahe gekommen war, dass ihr von seinem Eau de Cologne beinahe übel geworden war. Der stechende Blick dieser grünen Augen … Aber nein, sie durfte jetzt nicht an ihn denken!
    Am Ende der Galerie stand ein in schwarzen Satin gehülltes Objekt ganz allein in einem Lichtkegel. Nur ein Eckchen des korallenfarbenen Sockels lugte unter dem Stoff hervor. Clio warf einen Blick unter den Vorhang und seufzte auf.
    Da war sie: die Alabastergöttin. Artemis in ihrer einzigartigen Pracht.
    Die Statue war nicht groß; viele andere Figuren auf der Galerie stellten sie diesbezüglich in den Schatten. Aber sie war so vollkommen in ihrer Schönheit, so anmutig und elegant, dass Clio gleich verstand, warum sie so berühmt war.
    Der Alabaster schimmerte hell wie Silber oder Neuschnee. Die Göttin hatte ihren Bogen erhoben und gespannt, gleich würde der Pfeil davoneilen. Wie von einer sanften Brise erfasst, umspielte ihre gefältelte Tunika den schlanken Leib bis zur Mitte der Oberschenkel. Die muskulösen Beine waren angespannt, als wollte sie gleich loslaufen. Die Sandalen mit den zarten Bändern, deren Imitate jede Dame diesen Sommer trug, wiesen noch Spuren von Blattgold auf, ebenso das Bandeau, das ihre Lockenpracht zurückhielt. An diesem Stirnband war eine Mondsichel festgemacht, um sie als Göttin des Mondes auszuweisen. Den Blick strikt auf ihr Opfer gerichtet, ließ sie sich von der Bewunderung der Sterblichen nicht im Geringsten beirren.
    Clio sah gebannt zu ihr auf und malte sich den Tempel aus, über den Artemis einst geherrscht hatte. Voller Mitgefühl berührte sie sanft Artemis’ Fuß. Dabei fiel ihr auf, dass die Göttin auf einem neuzeitlichen Holzsockel stand, einem massiven Mahagoniblock. In seiner Mitte verlief ein dünner Spalt. Sie beugte sich vor, um herauszufinden, ob das ein Fehler im Holz oder Absicht war.
    „Ah, Miss Clio. Wie ich sehe, haben Sie herausgefunden, wo ich meinen Schatz aufbewahre“, sagte der Duke hämisch.
    Clio zuckte zurück und wirbelte herum. Er stand auf halber Strecke zwischen der Treppe. Selbst im Dämmerlicht glitzerten seine Augen wie die der Schlangen auf ihrem Kopf. Er lächelte sie sanft an und schlug sein Leopardenfell über die Schultern zurück.
    Jetzt kam er näher, leichtfüßig und lautlos wie ein Leopard. „Sie ist schön, nicht wahr?“ Immer noch sprach er leise, fast zärtlich. „Mir war klar,

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