Betörend wie der Duft der Lilien
dicker weißer Verband verbarg seine Stirn, und sein Gesicht war fast ebenso weiß, aber immerhin stand er auf den eigenen Füßen, ohne zu schwanken. Mit loderndem Blick musterte er die Zuhörerschaft, als wären sie seine Untertanen und der Saal sein Königreich.
Neben ihr erstarrte Clio. Sie bemerkte kaum, dass Calliope ihr besänftigend die Hand auf den Arm legte, sondern starrte geradeaus, als lauschte sie immer noch dem verstummten Redner.
„Also ist er nicht gestorben“, murmelte Cameron.
„Sicher?“, fragte Calliope. „Lotty meint, er wäre ein Geist, und so absurd kommt mir das nicht vor.“
Hoheitsvoll schritt der Duke den Gang entlang nach vorn, wo er auf einem leeren Stuhl Platz nahm. Wie Clio sah er stur nach vorn. Sobald deutlich wurde, dass er nichts Außergewöhnliches tun würde, erstarb das Geflüster, und Herr Müller nahm den Faden wieder auf.
„Die Götter sind sitzend dargestellt, aber ihre Köpfe sind auf derselben Höhe wie die der sich nähernden Menschen …“
„Ich brauche frische Luft“, murmelte Clio angespannt. Bevor Calliope etwas erwidern konnte, war sie schon aufgesprungen. Da auch einige andere Damen die Unterbrechung nutzten, um sich zurückzuziehen, fiel ihr überstürzter Aufbruch nicht auf.
Beunruhigt sah Calliope ihr nach. Als ihr wieder einfiel, wie verstört und zerbrechlich Clio gewirkt hatte, als sie sich nach dem Maskenball über ihr zerrissenes Kostüm gebeugt hatte, hielt sie nichts mehr an ihrem Platz.
Eine Entschuldigung murmelnd folgte sie ihrer Schwester.
Im Foyer vertraten sich bereits einige Besucher die Beine. Wahrscheinlich stellten sie leise Spekulationen über den dramatischen Auftritt des Dukes an, oder sie gratulierten sich zur gelungen Flucht vor dem langweiligen Vortrag. Clio war nicht unter ihnen, auch nicht im Damensalon oder in der Bibliothek. Die meisten Studierzimmer und Lagerräume im Obergeschoss waren abgeschlossen; dort konnte sie auch nicht stecken.
Mit zunehmender Besorgnis eilte Calliope zum Haupteingang hinaus und blickte links und rechts die Straße entlang. Hier draußen war es dunkel, kühl und bis auf die vorüberratternden Kutschen ganz still.
„Clio!“, rief sie, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.
„Miss Chase?“
Sie drehte sich um und sah, dass Cameron ihr nach draußen gefolgt war. Ohne auf den kühlen Wind zu achten, der sein Haar zerzauste und an den Falten seines schönen Krawattentuchs zerrte, sah er sie ernst an.
Calliope hatte sich noch nie hilfloser gefühlt. Ihre Familie, der Dieb, der Duke: Sie verstand die Menschen einfach nicht mehr. Die ganze Ordnung und ihre Selbstbeherrschung zerbröckelten zusehends, und ihr blieb nichts übrig, als tatenlos zuzusehen.
Sie streckte ihm ihre zitternden Arme entgegen. „Ich finde sie nirgends“, klagte sie, den Tränen nahe.
Er schritt die Stufen herab und barg ihre Hände in den seinen. Wie warm er war und wie stark. Er legte ihre Hand in seine Armbeuge und führte sie ins Gebäude zurück. „Ihre Schwester ist eine vernünftige Person. Ich bin mir sicher, dass sie nicht einfach in die Nacht hinauslaufen würde.“
„Aber wo steckt sie nur?“
„Immerhin wissen, wir, dass sie nicht mit dem Duke zusammenstoßen wird, denn der sitzt noch im Saal und lässt sich von Herrn Müller einschläfern. Vielleicht in einem Studierzimmer?“
Calliope schüttelte den Kopf. „Die sind abends abgeschlossen.“
„Alle?“
„Ich weiß nicht … Helfen Sie mir nachzusehen?“
Cameron zog schon wieder spielerisch die Brauen hoch: eine Marotte, die sie allmählich zu hassen lernte – und zugleich immer attraktiver fand. „Miss Chase! Ich bin schockiert!“
„Jetzt zieren Sie sich nicht so. Niemand wird uns sehen. Und ich … Nun ja, es ist so dunkel da oben. Was, wenn der Duke beschließt, den Saal zu verlassen?“
„Ach so, ich soll Sie vor den Gespenstern beschützen!“ Er musterte die Menschen, die immer noch über das Hauptthema des Abends sprachen: den Duke of Averton. Niemand schenkte ihnen Beachtung. „Also gut, ich bin gern Ihr edler Ritter. Nach Ihnen, Miss Chase.“
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, eilte Calliope die Treppe hinauf. Was war bloß in sie gefahren? Sie war doch sonst nicht so ängstlich. Auch nicht so wagemutig wie Thalia, aber doch wohl imstande, ohne Leibwächter ein paar leere Studierzimmer zu durchsuchen.
Aber seit dem Maskenball war ihre behütete kleine Welt voller Schatten und Schemen, voller unerwarteter
Weitere Kostenlose Bücher