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Betörend wie der Duft der Lilien

Betörend wie der Duft der Lilien

Titel: Betörend wie der Duft der Lilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: AMANDA MCCABE
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Haut, als sie sich als Kind in einer Sommerwiese gewälzt hatte. Ihr schwanden die Sinne, und sie nahm nur noch ihn wahr. Seine Hände, fest und lebendig, heiß. Die Kraft, mit der er sie aufrecht hielt.
    „Was eher: mutig oder verrückt?“, flüsterte sie.
    „Verrückt. Eindeutig.“ Seine Stimme war so belegt, dass er kaum zu verstehen war.
    Als er ihr den Kopf zuneigte und sie küsste, erschien er ihr wie in einem Traum, unendlich weit fort und doch näher als je irgendjemand. Seine warmen, samtigen Lippen berührten die ihren ganz sacht. Einmal. Zweimal. Als sie nicht zurückwich, nicht weichen wollte, nicht weichen konnte, sondern sich näher drängte und ihn fester hielt, wurde sein Kuss heißer, feuchter, drängender.
    Irgendetwas in ihrem Herzen hieß diese Dringlichkeit willkommen, eine Erregung, die in ihr aufstieg und sich ausdehnte, bis sie schier zu zerspringen glaubte. Sie seufzte, und als sie den Mund öffnete, spürte sie, wie seine Zungenspitze sich vortastete. Die Welt war wie ausgelöscht, es gab nur noch ihn. Nur das Jetzt, den einen, vollkommenen Moment.
    Einen Augenblick, der allzu schnell endete. Ein Schrei drang von der Straße hinauf direkt in ihren Traum und zerrte Calliope bleischwer auf den Boden zurück. Sie löste sich von Camerons Lippen, drehte den Kopf beiseite und atmete tief die kalte Luft ein.
    Schwer atmend trat er zurück. „Calliope“, sagte er heiser. „Calliope, ich …“
    „Nein“, brachte sie heraus. Ihr war nach Heulen zumute, aber warum nur? Weil sie ihn geküsst hatte – oder weil es vorbei war? „Bitte sag jetzt nicht, dass es dir leidtut.“
    „Leidtun? Wie sollte es! Aber …“
    „Kein ‚Aber‘. Ich kann … Ich meine, ich …“ Zum ersten Mal im Leben fehlten Calliope die Worte. Sie wirbelte herum und stürmte durch die Tür, den Gang entlang, die Treppen hinunter und in den menschenleeren Damensalon, als wäre ein leibhaftiger Dämon hinter ihr her und nicht nur das Gespenst der Leidenschaft.
    Sie schlug die Tür zu, sperrte ab und drehte sich um – nur um ein erschrecktes Gesicht zu sehen. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass sie in einen Spiegel blickte. Diese hektischen roten Flecken auf den ansonsten bleichen Wangen, das wirre Haar, die fiebrigen Augen: Sie sah wie Clio aus.
    Wie ihre Schwester, als sie vor dem Duke of Averton geflohen war.

13. KAPITEL

    Calliope beugte sich zum Kutschenfenster vor, um die nächsten Wunder vorüberziehen zu sehen. Tagelang hatten Clio, Thalia und sie sich in dieser Kutsche durchschütteln lassen, um nach Yorkshire zu gelangen, und die Langeweile mit Vorlesen und Kartenspielen zu vertreiben versucht. Aber jetzt fand sie, dass die Strapazen sich gelohnt hatten: Die fremdartige Landschaft war atemberaubend.
    Sie hatte die Begeisterung für die Natur und überhaupt alles Wilde, die dank einiger Modedichter gerade en vogue war, bislang nicht recht nachvollziehen können. Sie fühlte sich zur klassischen Ordnung hingezogen, und in der Stadt, umgeben von Häusern, Läden und geometrischen Plätzen, Toren oder Parks war es ihr leichtgefallen, an eine solche Ordnung zu glauben. Erst jetzt begann sie einzusehen, dass die Dichter nicht ganz unrecht hatten. Selbst die Griechen hatte nicht nur Ordnung gekannt, sondern auch Wahnsinn und Blut und Ungeheuer.
    Dieses Land war auf eine ganz andere Weise schön als eine schlichte weiße Marmorstatue. Es wirkte unbeherrscht und grenzenlos und gab einem das Gefühl, ganz allein auf der weiten Welt zu sein. Selbst Thalia war verstummt und blickte über Calliopes Schulter hinweg in die Ferne. An den kahlen Bergflanken zogen sich bis zu den Kuppen krumme, dunkel-, violett- und grüngraue Trockenmauern hinauf, die das karge Land in unregelmäßige Rechtecke unterteilten.
    Seit sie im letzten Dorf die Pferde gewechselt hatten, waren diese alten, moosbedeckten Mauern fast die einzigen Anzeichen für die Gegenwart von Menschen, abgesehen von vereinzelten Höfen oder einem Schäfer mit seiner Herde. Vergangene Völker hatten umso mehr Spuren hinterlassen: Römer, Wikinger, Sachsen, Normannen – sie alle waren hier gewesen und hatten das Land geprägt. Sogar Piraten hatte es in der Nähe gegeben, in einem kleinen Küstenort namens Robin Hood’s Bay. Und vielleicht auch noch ältere Kulturen, deren Überreste sich in den Hügelgräbern auf den Bergkuppen verbargen.
    Calliope schob das Fenster hinunter, um die frische Luft hineinzulassen, die von schweren Erd- und Torfgerüchen

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