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Betörend wie der Duft der Lilien

Betörend wie der Duft der Lilien

Titel: Betörend wie der Duft der Lilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: AMANDA MCCABE
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gesättigt war. In der Ferne führte ein schmaler Pfad, eine helle Narbe im grauen Boden, zu einer Kirchenruine hinauf, deren schwarze Fensterhöhlungen zur Kutsche herüberzuschauen schienen. Ja, die Vergangenheit war in diesem Land ohne Frage sehr gegenwärtig und lebendig. Sie konnte sich gut vorstellen, wie Cameron auf seinem Pferd über die windgepeitschten Hügel galoppierte …
    Calliope ließ sich in ihren Sitz fallen. Warum musste er sich bloß ständig in ihre Gedanken drängen, ganz gleich, wo sie war und was sie tat? Beim Lesen und Spazierengehen, bei der Essensplanung mit der Köchin oder beim Kartenspiel mit ihren Schwestern, immer tauchte er auf. Dabei hatte sie ihn seit jenem Abend in der Altertumsgesellschaft nicht mehr gesehen. Sie hatte gehört, dass er die Stadt verlassen hatte, um sich um seinem Landsitz zu kümmern.
    Die Erinnerungen an jenen Kuss machten es ihr schwer, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Wenn sie anfing, ein Buch über den Trojanischen Krieg zu lesen, vergaß sie ihn, aber sobald darin Hermes erwähnt wurde, war sie wieder bei Cameron. Beim Glanz seiner Augen im Mondlicht, dem sanften Druck seiner heißen Lippen auf den ihren, dem Duft seiner Haut. Zwar hatte sie ihre verheirateten Freundinnen schon oft von den sinnlichen Freuden der Ehe tuscheln hören und auch ein paar von Lottys dummen Romanen gelesen, aber sie hatte das immer für maßlos übertrieben gehalten. Wie konnte die bloße Berührung eines Mannes eine Frau alles ringsum vergessen lassen?
    Jetzt wusste sie es besser, denn ihr erging es genauso. Sie sehnte sich danach, wieder so geküsst zu werden, und fürchtete es zugleich. Was, wenn der Gefühlsrausch sie vollends mitriss und sie in seinen Fluten ertrank? Ausgerechnet wegen Cameron de Vere – das war doch lächerlich!
    Er hingegen schien keine solchen Gefühle zu hegen, sonst hätte er die Stadt wohl nicht so überstürzt verlassen. Sie war sich nicht einmal mehr sicher, ob er sich überhaupt im Haus der Saunders einfinden würde, und wagte es nicht, Emmeline danach zu fragen. Niemand durfte erfahren, wie es um sie stand, nicht einmal ihre Schwestern.
    Es war ohnehin fraglich, ob Clio ihr zuhören würde. Seit dem Vortrag wirkte sie geistesabwesend. Sie schien über irgendetwas zu brüten, das sie mit niemandem teilen wollte.
    Und die Gesellschaft der kunstverständigen Damen war mit der Suche nach dem Liliendieb noch kein bisschen vorangekommen. Es hatte keine weiteren Einbrüche oder hilfreiche Hinweise gegeben. Diese Ferien in der Nachbarschaft des Dukes – und damit der Alabastergöttin – waren wohl ihre beste Chance.
    „Wir müssten bald da sein“, sagte Thalia. „Ich kann es gar nicht erwarten, hier herumzulaufen! Glaubt ihr, wir können in dem Fluss schwimmen, über den wir gerade gefahren sind?“
    „Wenn du unbedingt willst, dass dir das Blut in den Adern gefriert, nur zu“, antwortete Clio trocken, während die Kutsche eine Steigung hinaufrumpelte.
    „Ach, komm! Es ist doch nicht Januar. Ein kleines Bad ist bestimmt sehr belebend.“
    „Solange dich niemand dabei sieht“, meinte Calliope. Die Chase-Schwestern hatten in letzter Zeit wahrlich genug Skandalöses getrieben; nur gut, dass sie bis jetzt nicht dabei erwischt worden waren.
    „Ich bin der Inbegriff der Diskretion. Oh, schaut doch!“ Thalia zeigte hinaus. „Wir sind am Ziel.“
    Die Kutsche fuhr durch ein geöffnetes Tor und rollte über einen Kiesweg, der von windschiefen Bäumen gesäumt war. Am Ende der langen, geraden Auffahrt stand Kenleigh Abbey, das Haus von Emmelines Eltern, dem Earl und der Countess of Kenleigh.
    Es war genau, wie Emmeline es beim letzten Treffen der Gesellschaft beschrieben hatte: eine mittelalterliche Abtei, die zum Wohnsitz umgebaut worden war. Heinrich VIII. hatte das Kloster – zusammen mit dem Titel – einem ihrer Vorfahren geschenkt. Die groben Außenmauern aus dem örtlichen grauen Stein waren verwittert und mit Strähnen grünbraunen Mooses bewachsen. Die Obergeschosse hatten moderne Glasfenster, während das Erdgeschoss immer noch von altertümlichen Bögen und Kreuzgängen geprägt war. Vor dem hellblauen Nachmittagshimmel wirkte es fremdartig und bezaubernd, aber nachts würden womöglich die Geister der alten Mönche aus den finsteren Bögen spähen …
    Genug jetzt, Calliope. Keine billigen Romane mehr! Erst Byron’sche Helden, die übers Moor galoppierten, und jetzt Abteigespenster. Was würde ihre überhitzte Fantasie als Nächstes

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