Betörend wie der Duft der Lilien
Gewand und mit den goldenen Bändern im rotbraunen, zu einem lockeren klassischen Knoten zusammengefassten Haar war sie heute Abend so schön wie immer, aber den Augen hinter den Brillengläsern fehlte der übliche Glanz, und ihre Wangen waren blass.
„Ist dir nicht wohl?“, fragte Calliope besorgt. „Sollen wir lieber nach Hause gehen?“
Clio schnaubte widerwillig und nestelte an ihrem Fächer herum. „Nein, ich bin nicht krank. Ich bin nur – ach, ich weiß auch nicht!“ Nach dieser höchst uninformativen Auskunft stapfte sie quer durch den Raum, um eine der Gipsstatuen von Göttern und sterbenden Galliern zu betrachten, die an den rot tapezierten Wänden aufgereiht standen.
Die Statuen hatten schon dort gestanden, seit ihre Eltern sie als Mädchen zum ersten Mal hierher mitgenommen hatten: eine der Konstanten in ihrem Leben, die Clio gerade moniert hatte. Calliope erinnerte sich gut an ihre ersten Besuche, bei denen sie gebannt den uralten Berichten über Kriege, Politik, Heldentaten und unglückliche Liebschaften gelauscht hatte. Die meisten Leute von damals waren auch heute noch dabei, nur etwas grauer als einst.
Würde sie als alte Frau immer noch herkommen, vielleicht in Begleitung ihrer Kinder und Enkel? Oder mit Emmeline und Lotty und deren Kinderschar? Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, aber so war nun einmal der Lauf der Welt.
Calliope verspürte ein leichtes Unbehagen, das sie stutzen ließ. Hatte Clio recht, drehte sich alles nur im Kreis?
Sie dachte an Cameron de Vere, der, wo auch immer er stand oder ging, einen verführerischen Hauch jener fernen Länder zu verströmen schien, in denen er seine Abenteuer bestanden hatte: Selbst in die stickigsten Salons und die ödesten Teegesellschaften trug er noch etwas Skandalöses, ja Gefährliches hinein.
Skandale und Gefahren waren das Letzte, was sie jetzt brauchte. Sie hing an ihrer geordneten Welt voller langjähriger Freundinnen und gewohnter Abläufe. Zumindest hatte sie das immer geglaubt …
„Sie wirken heute Abend so nachdenklich, Miss Chase.“ Die tiefe, raue Stimme, die hinter ihr erklang, ließ sie erbeben. Sie wusste, wer da sprach, bevor sie sich noch umdrehte. Schließlich hatte sie gerade an ihn gedacht.
Cameron. Fast war es, als könne sie ihn mit ihren Gedanken regelrecht heraufbeschwören.
Sie setzte ein breites Lächeln auf, bevor sie sich ihm zuwandte. Er bot auch heute Abend wieder einen stattlichen Anblick, aber zugleich wirkte er recht düster in seinem dunkelroten Frackrock und mit seiner ernsten Miene. Das schwarze Haar hatte er gebändigt und zurückgekämmt.
„Vor einem Vortrag sollte man seine Gedanken sammeln, oder?“, erwiderte sie.
„Gedanken daran, mit welchen Fragen Sie den Redner in Verwirrung stürzen können, vermute ich.“ Ein Hauch des vertrauten Lächelns schlich sich in seine Züge. „Ich möchte wetten, Sie wissen viel mehr als dieser Herr … wie heißt er noch?“
„Müller, von der Universität Köln. Lady Emmeline Saunders und ihre Eltern haben ihn übrigens zu sich aufs Land eingeladen“, sagte Calliope. „Und ich hoffe, dass er eine ganze Menge weiß, denn wir werden ihm etliche Tage zuhören dürfen.“
„Ach ja, der Besuch im Landhaus der Saunders. Seltsamer Zufall, dass es so dicht neben Avertons Landsitz liegt.“
Calliope hob die Schultern. „Ein wunderschöner, abgelegener Ort, an dem man in Ruhe lesen und diskutieren kann.“
„Und vielleicht auch spionieren?“
Calliope lachte auf und hielt sich dann die Hand vor den Mund: Räume der Altertumsgesellschaft waren ein würdevoller, gesetzter Ort, in dem lautes Gelächter deplaziert erschien. „Ich habe mir sagen lassen, dass man dort auch sehr gut Vögel beobachten kann. Mein Opernglas nehme ich jedenfalls mit.“
Cameron gab sich keine Mühe, seine Belustigung hinter vorgehaltener Hand zu ersticken. Prompt drehten sich einige Köpfe, um zu sehen, wer hier so hemmungslos lachte. Ach je, dachte Calliope, neue Nahrung für die Klatschmäuler. Doch seine natürliche Heiterkeit war so ansteckend, dass sie sich darum zumindest im Augenblick nicht scherte.
„Sie haben also schon einen heimlichen Ausflug in die Nachbarschaft geplant?“, fragte er.
„Im Grunde nicht. Ich muss feststellen, dass mir für solche Schnüffeleien die Raffinesse fehlt. Hoffen wir, dass sich eine günstige Gelegenheit ergibt, sobald wir dort sind.“ Calliope warf einen Blick auf Clio, die an der anderen Seite des Foyers stumm und
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