Betörende Versuchung
Grace und Onkel Joseph hatten dort ein hübsches Haus, und es gab für Arabella nichts Schöneres, als lange Spaziergänge in den umliegenden Hügeln zu unternehmen - es wäre der ideale Ort, um das Durcheinander in ,ihrem Kopf loszuwerden.
Das Beste wäre sowieso, weit, weit weg von Justin Sterling zu sein. Es würde keine weiteren Begegnungen geben - ob zufällig oder sonst wie -was sie als große Erlösung empfand. Die leise drängende Stimme in ihrem Innern, die sie daran erinnerte, dass sie diejenige gewesen war, die ihn in der letzten Nacht gesucht hatte, ignorierte sie einfach.
»Ja, Liebes«, sagte Tante Grace gerade. »Wir fahren sogar recht früh. «
Arabella lächelte; das erste aufrichtige Lächeln an diesem Tag. »Wo fahren wir denn hin, Tante? «
Tante Grace trank ihren Tee aus. »Der Marquis von Thurston und seine Frau geben ein Fest - weißt du das nicht mehr? Wir fahren nach Thurston Hall, auf ihren Landsitz.«
»Waaas?« Einen Moment lang konnte sie es nicht fassen. Fast hätte sie vor Bestürzung aufgeschrien.
Sie wusste natürlich, wer dieser Marquis von Thurston war. Es war Justins älterer Bruder Sebastian. Gütiger Himmel'.'..
»Ja, Liebes.« Tante Grace schob ihren Stuhl zurück. »Letzte Woche kam die Einladung. Ich bin sicher, es erwähnt zu haben, Es wird dir wohl entfallen sein.« Sie klang sehr vergnügt. »Eine Woche in Thurston Hall ... Es ist ein bezaubernder Ort, Liebes. Und ich muss zugeben, dass ich mich sehr darauf freue. «
Aber Arabella freute sich überhaupt nicht. Noch lange, nachdem Tante Grace den Tisch verlassen hatte, blieb sie sitzen. Tante Grace hatte Recht. Diese Einladung war ihr entfallen. Sie hatte sie in der Tat völlig vergessen. Schließlich stand sie mit einem tiefen Seufzer auf.
War es vermessen, darauf zu hoffen, dass Justin nicht dort sein würde?
Sie schnaubte verächtlich. Sie musste sich damit abfinden, dass Justin da sein würde. Zweifellos, so umwerfend und verwegen und gefährlich wie immer.
Die kleine quälende Stimme ganz in ihrem Innern, die
sie an ihre gestrige Ansprache erinnerte, gefiel ihr keineswegs ...
Ich schätzte, wir werden un s wohl kaum völlig aus dem Weg gehen können. Also müssen wir uns irgendwie arrangieren. Ich finde, dass wir zumindest anständig miteinander umgehen sollten.
Was hatte sie sich dabei gedacht, so einen Blödsinn von sich zu geben? Und wieso nur hatte sie das Gefühl gehabt, dass diese Worte auf sie zurückfallen würden?
Sie zweifelte nicht daran, dass ihm etwas Neues einfallen würde, womit er sie quälen konnte.
Sei es drum. Wenigstens eines war sicher. Sie musste sich keine Sorgen darüber machen, dass er sie würde wie der küssen wollen. Es gab keine denkbare Möglichkeit in diesem Leben, dass das noch mal geschehen konnte.
Vielleicht, eines Tages - vorausgesetzt, dass sie jemals heiraten sollte - würde sie ihren Enkeln erzählen, das sie einst von dem schönsten Mann von ganz England geküsst worden war ...
Sie würden ihr niemals glauben. Wie sollte denn irgendwer das glauben, da sie selbst es noch nicht einmal tat.
Die Reisekutsche der Burwells war ein gut gefedertes und angenehmes Gefährt. Tante Grace plauderte munter drauflos, während sie das hektische, geschäftige London hinter sich ließen. Sowohl Arabella als auch Onkel Joseph hörten nur mit halbem Ohr zu. Zu Mittag machten sie kurz Halt an einem Landgasthof und setzten dann ihre Reise fort. Es dauerte nicht lange, und die Tante und der Onkel waren eingenickt. Als Arabella die beiden so betrachtete, musste sie lächeln. Tante Grace schnarchte leise mit halb geöffnetem Mund, den Kopf an Onkel Josephs Schulter gelehnt. Der Onkel hatte die Krempe seines Hutes gegen die grelle Sonne heruntergeklappt. Tante Grace bewegte sich leicht; er umfasste sanft ihre fleischigen Finger.
Arabella fragte sich, wie sie hatte so blind sein können. Tante Grace und Onkel Joseph liebten sich. Sie hatte nur stets geglaubt, das sei mit der Zeit gekommen, nach der Hochzeit. Aber seit ein paar Tagen sah sie, was sie vorher nie mitbekommen hatte. Eine Berührung hier, ein Seufzer da, ein Flüstern dort und ein leises Nicken mit dem Kopf, ein Lächeln ... all das waren Zeichen der Liebe. Zeichen dafür, dass sie sich wohl fühlten mit dieser Liebe, und es ihnen nichts ausmachte, wenn andere das mitbekamen.
Ihre Kehle schnürte sich merkwürdig zusammen. So war es bei ihren Eltern auch, trotz ihrer äußerlichen Unterschiedlichkeit - ihre Mutter
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