Betreutes Trinken
unterwegs sein. Trotzdem bin ich schwer beladen, als ich wieder auf der Straße stehe.
Katja kurbelt das Seitenfenster herunter. »Ich habe ein Monster erschaffen«, murmelt sie, als ich den Gitarrenkoffer auf die Rückbank wuchte.
Auf dem Weg zum Bahnhof schweigen wir.
Vielversprechend.
XXXVI
I ch kaufe ein Ticket. Und ein paar Rasierklingen. Falls mich unterwegs der Mut verlässt.
Und das geschieht schon kurz vor Dortmund.
Die Menschen, die in der 1. Klasse sitzen, sind immer dankbar, wenn sie jemand daran erinnert, wie privilegiert sie sind. Als ich schüchtern nachfrage, ob einer der Herren mir vielleicht mit ein wenig Rasierschaum aushelfen könnte, wird mir aus aufgeklappten Rollkoffern eine ganze Palette unterschiedlicher Produkte präsentiert. Gerade will ich zum hautschonenden Markenprodukt greifen, als einem Mitfahrer eine viel bessere Idee kommt: »Mädchen, ich hätte auch die Schermaschine dabei. Brauchst du Hilfe?«
Ich habe mich verliebt. In einen Erstklässler, der sich als Hobbyfriseur outet. Der Mann stöpselt sein Laptop aus und scheucht seine pöbelnden Kollegen lässig aus der Gefahrenzone ins Bordbistro.
»Alles ab«, fordere ich. Bin aber gar nicht stimmberechtigt.
»Pass auf, ich mach erst einmal nur die eine Seite. Steht dir bestimmt. Dann siehst du aus wie die Freundin von dem Rammstein-Sänger. Die magst du doch bestimmt auch, oder?«
Wen? Rammstein? Die kleine Thomalla? Kompromissfrisuren?
Wrrrrrrmmm. Wrrmmmm. Wrmmmm.
»Also, ich find’s super.«
Ich ihn auch. Ob er mit zu mir nach Hause kommt? Ich will ihn fragen, aber der Fahrkartenkontrolleur unterbricht unsere Romanze. Nur ein ganz kurzes »Danke« kann ich noch sagen, bevor ich auf die billigen Plätze verwiesen werde.
Ob ich ihn jemals wiedersehen werde?
Ach, wozu? Unsere Liebe hätte niemals eine Chance. Er mag Rammstein.
Der Abstieg vom Hochgeschwindigkeitsexpress zum Bummelzug ist noch härter. Die Landbevölkerung ist noch nicht bereit für meinen neuen Stil. Wahrscheinlich verstärkt das Krankenhausnachthemd den Eindruck, dass ich aus einer medizinischen Institution entwischt bin. Wie kam ich auf die Schnapsidee, zu meiner Mutter zu fahren?
Und wieso steht sie da am Bahnsteig? Instinkt, oder steht sie jeden Tag dort und wartet auf ihre verlorene Tochter?
Meine Mama. Nimmt mich in ihre Mama-Arme. Lässt mich Unfug zwitschern, bis ich nur noch schluchze. Mama tröstet mich: »Ich habe noch schlimmere Frisuren an dir gesehen, Große.«
Aber natürlich hat sie eine Mütze mitgebracht.
Ich muss noch mehr heulen, weil die Mütze auf der Wunde drückt. Und sie auch aus Leder ist.
»So – schon besser«, kommentiert meine Mutter ihr Werk, »wie Martin Gore von Depeche Mode.«
Stimmt, die Mütze hat sie von einem der ersten Konzerte. Wir waren zusammen dort. Meine Mutter durfte in der ersten Reihe stehen, weil sie im neunten Monat mit mir schwanger war.
»Wieso bist du hier?«, schniefe ich, und meine Mama guckt, als wäre ihr selbst nicht ganz klar, warum sie ihre dreißigjährige, angeblich untergewichtige, halbgeschorene, dürftig bekleidete, arbeitslose Tochter vom Bahnhof abholen wollte.
»Eine Katja hat mich angerufen. Klang sehr überzeugt davon, dass du hier aufkreuzen würdest, also bin ich mal losgefahren.«
»Katja?« Woher hat Katja die Telefonnummer meiner Mutter? Weil sie ein raffiniertes Stück ist, deswegen.
Meine Mutter hat genug vom Umarmen. So lange hat sie es noch nie durchgehalten. Ich muss wirklich elend aussehen. Mama will mich am liebsten verstecken. »Lass uns mal abhauen, Große. Die Leute hier machen mich wahnsinnig.«
Mir ist gar nicht aufgefallen, dass hier noch andere Leute sind. Aber sie beobachten uns ganz eindeutig. Alle. Keine Fans von Depeche Mode, nehme ich an. Meine arme Mutter. Ich bereite ihr nur Kummer.
»Beherrsch dich doch mal, Doris«, bittet sie mich leise.
Nur um dann umso lauter die glotzenden Tanten, die Frau vom Bäckereistand, die halbwüchsigen Schulschwänzer und den Rentner mit dem Jagdhund anzuschnauzen: »Die Vorstellung ist vorbei, wir gehen zurück in den Wald – Kinder in den Ofen schieben!«
Mama greift nach meiner Hand, und mir scheint, dass ihre Haare noch greller leuchten als bei meinem letzten Besuch. Sie zieht mich entschlossen hinter sich her, auf ihren hohen Schuhen ist sie fast so groß wie ich, ihr Hintern ist immer noch ein Hingucker. Und zum ersten Mal finde ich die enge Lederhose nicht peinlich an ihr, auch nicht den schweren
Weitere Kostenlose Bücher