Betreutes Trinken
wir denen einfach Barbieklamotten an und fertig ist die Mühle, oder?«
Ich mag Jenny. Kira gerade nicht so: »Aber Jenny, wäre das nicht irgendwie sexistisch? Also, Barbie an sich ist schon kein gutes Vorbild, oder?«
Jenny seufzt leise. Ich muss sie mal ins »Dead Horst« mitnehmen. Sie ist vielleicht die Einzige im Raum, die noch zu retten ist.
Ich meine, alle, wie sie hier sitzen und in ihre Tassen starren, sie waren alle mal gute Leute – oder hätten mal welche werden können. Jochen gründet nun einmal gerne Familien, ich bin mir sicher, er tut alles für seine Kinder, er gibt ihnen sogar (noch) Namen statt Nummern. Und ich weiß, dass Jochen sich früher genauso engagiert um anderer Leute Kinder gekümmert hat, die, denen es wirklich dreckig ging.
In seiner Zeit hat er sich mit Jugendämtern angelegt, vermittelt, getröstet und die ganz harten Fälle nachts unter den Brücken gesucht und gefunden. Iris hat lange für ihre Reittherapie gekämpft, so lange, bis das Pferd gestorben ist. Silke hat ein Jahr in einem Frauengefängnis in Brasilien gearbeitet und allen Grund dazu, ihre Diplomarbeit noch nicht beendet zu haben. Kai kommt tatsächlich »von der anderen Seite«, sprich, er war selbst ein Problemkind, Problemjugendlicher und hat sich da rausgearbeitet. Nur war er als Szenekenner zu perfekt. Als er ein Praktikum bei der Drogenberatungsstelle in seinem eigenen Viertel absolvierte, blieb dort die Klientel fern, weil sie zum großen Teil mit ihm verwandt war.
Und dann sind da unsere Spezialfälle: Arne wollte Profifußballer werden, aber seine Knie nicht. Unverdrossen begann er danach das Studium des Pflegemanagements, aber sein Ehrgeiz schwand, er wurde Sozialarbeiter. Daraus kann ich niemandem einen Vorwurf machen, allerdings wirkt Arne von Schicht zu Schicht abgestumpfter. Er hat sich noch nicht einmal darüber aufgeregt, dass seine geliebten Tischfußballfiguren vorrübergehend entmannt werden sollen.
Nun, Jenny ist noch ganz neu hier, Kira ist Kira und Margret die Chefin. Die Patronin, die Gallionsfigur, die Grande Dame. Wenn Jochen früher der Robin Hood der Straßenkinder war, war Margret Calamity Jane, Mutter Teresa und Katharina die Große in einer Person.
Legendär die Geschichte, wie sie mit einem Jagdgewehr vor dem Haus eines prügelnden Vaters stand und die verwahrlosten Kinder forderte. Der Fall ging durch die lokale Presse.
Leider wurde nie erzählt, wie es weiterging, nachdem Margret die Deutschlandflagge im Vorgarten abgeschossen hatte. Zwar wurden die Kinder in Pflegefamilien untergebracht, aber Margret wurde von ganz oben angeraten, alles mal etwas ruhiger anzugehen. Aus dem Fokus zu verschwinden. Und dann geschah der großen Margret, was allen wiederfährt, die im wilden Wasser auf Tauchstation gehen – sie werden angespült, auf einer paradiesischen Insel. Ohne Rückflugticket.
Ich arbeite hier, weil ich mich vor dem Supergau aus der Affäre gezogen habe. Sozusagen noch vor dem großen Sturm ins Rettungsboot gesprungen bin. So hatte ich zwar einen guten Sitzplatz ergattert, aber gelandet bin ich am selben Ort: der Insel der Verdammten.
Aber so sehr mich mein beruflicher Status quo auch deprimiert, es gibt lichte Momente: Das Geld ist pünktlich auf dem Konto, ich bin richtig gut im Kickern geworden, und in zehn Minuten kann ich endlich die SMS lesen, die wahrscheinlich mein Leben verändern wird.
»Mist, der letzte Schluck Milch. Will den noch jemand?«, fragt Silke und hält die fast leere Milchtüte in die Runde. Und alle, alle verneinen, starren dabei in ihre Kaffeetassen, deren blassbraune Inhalte allesamt nach einer Aufhellung schreien. Das findet man auch nur unter Sozialarbeitern. Kein direkter Egoismus, niemals.
»Riecht eh’ schon komisch«, erschnüffelt Silke nun aus der Tiefe der Milchtüte und entleert den Rest in den Ausguss. Damit ist auch das Meeting beendet. War doch ein positiver Abschluss, irgendwie.
»Kennst du jemanden, der kochen kann? Hilfe, M.«
Interessante Textbotschaft. Nicht ganz das, was ich mir von der SMS erhofft habe, und M für Marie stand auch nur in der Top 10 meiner Wunschabsender, aber nun gut.
»Warum?«, tippe ich zurück, obwohl ich es hasse, Fragen mit Gegenfragen zu beantworten. Dann geschieht nämlich erfahrungsgemäß das, was jetzt geschieht. Die Gegenseite holt zum direkten Appell aus, ich nehme Maries Anruf entgegen:
»Weil die Pommesbude dicht macht.«
»Warum?«
»Och Mensch, Doki, hast du noch ’ne andere Platte
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