Betreutes Trinken
dass wir die Sporen einatmen, zusammen mit Rauch, Schweiß und Pheromonen, vielleicht sogar Resten von Sauerstoff.
Wir vergessen, dass es gar nicht gesund ist, uns eiskalten Alkohol in die Kehlen zu schütten oder uns von der Bühne aus in eine betrunkene Menge zu werfen. Wir lieben unsere Musik so sehr, dass wir vergessen, dass der Sänger ein eingebildetes Arschloch und ein Vollidiot ist. Wir reichen ihm Freigetränke auf die Bühne, weil er für zwei Stunden ein Gott mit Reibeisenstimme ist. Da wir alles andere aus unserem Kopf gelöscht haben, können wir auch die neuen Songs mitsingen, die wir noch nie gehört haben.
Wir vergessen, dass der Bassist seine Chips gerne samt Tüten isst und dass er auf dem freien Arbeitsmarkt nicht die geringste Chance hätte. Wir jubeln ihm zu, weil er seine Bestimmung gefunden hat.
Frauen vergessen, wie abstoßend sie den Kerl mit der Rhythmusgitarre ohne Rhythmusgitarre fänden, und zeigen ihm stattdessen, was sie haben und er haben könnte.
Den Lead-Gitarristen wollen oder könnten wir nie vergessen, denn er kann ewiglange Soli spielen, ohne dass sie ewig lang wirken. Das ist wahre Kunst, und wir alle wollen ein Kind von ihm, dem wir seinen Namen geben, auch, wenn es ein Mädchen wird.
Raffi vergisst in solchen Momenten, die Gäste anzuschreien, und dass er sein Studium geschmissen hat, um diesen Tempel zu eröffnen.
Marie vergisst, wie viel Gage die Band verlangt hat und ob sie die überhaupt auszahlen kann. Harald vergisst, dass er nächste Woche nach Afghanistan befohlen werden könnte, entert die Bühne und kreischt zusammen mit Ray den Refrain ins Mikro. In jedem Gesicht, in das ich blicke, herrscht ein seliges Lächeln. Würde man irgendeinen der Anwesenden fragen, wie viel zwei und zwei ist, bekäme man einen Zungenkuss zur Antwort.
Holger vergisst, dass er nicht tanzen kann, und Albert vergisst, ihn gehässig darauf hinzuweisen. Sie tanzen zusammen.
Ein Paar auf der Toilette tanzt ebenfalls und vergisst dabei, dass das, was sie gerade tun, höchstwahrscheinlich in einem Wadenkrampf, vielleicht sogar in einem Leistenbruch enden wird.
Ein richtig gutes Konzert im »Dead Horst«ist Urlaub vom Leben. Sofortiges Abheben ist garantiert, genauso wie die Landung nach der letzten Zugabe.
Aber solange benehmen wir uns alle, als gäbe es kein Morgen.
Wenn die Ray Band spielt, kann ich sogar vergessen, dass es ein Übermorgen geben wird.
»Wir sind weg! Kauft unsere Platten, ihr Arschlöcher«, verabschiedet sich Ray, springt im selben Augenblick von der Bühne und drängelt sich an der Meute vorbei, um als Erster ins Backstage zu gelangen. Seine Jungs folgen ihm eilig, nach der Show ist dies der wichtigste Moment in einem mittelständischen Rockstardasein: Für eine halbe Stunde noch werden sie unnahbar sein, oben, auf ihrem Olymp, sie werden ihre Köpfe kurz unter Wasser halten, um für die Damenwelt noch verschwitzter auszusehen, als sie es jetzt schon sind.
Dann werden sie sich auf die abgewetzten Sofas werfen, rauchen, sich gegenseitig bestätigen, dass es heute echt geil war, nur der Lead-Gitarrist wird mosern, weil jemand sein Instrument falsch abgemischt hat. Das muss er tun, damit die anderen ihm widersprechen können, und dieser vom Zaun gebrochene Streit wird sich hinziehen, vier Zigaretten lang, und erst, wenn das letzte Bier aus dem Kühlschrank geleert ist, werden sie wieder herunterkommen, um sich ganz volksnah unter den Tisch zu saufen. Es entsteht das notwendige, halbstündige Vakuum, welches ein Drittel des Publikum dazu nutzt, um vor die Tür zu treten und zu atmen, ein weiteres Drittel versammelt sich am Merchandise-Tisch, um Devotionalien zu erwerben.
Nur die üblichen Verdächtigen bleiben gestählt an der Theke sitzen und lassen die letzten zwei Stunden auf ihre Art Revue passieren. Sie rauchen still, denn wenn es wahre Liebe ist, muss man seinen Nächsten nicht fragen: »Und, war es für dich auch so gut?«
Nur nicht heute Nacht.
Sie sind anders still.
Sie alle starren nur betreten auf ihre Gläser und Flaschen, als wäre die Theke gar kein Himmelbett, sondern der Aufwachraum, in den all jene Patienten gebracht werden, die nach einer kollektiven Rock’n’Roll-Narkose Folgeschäden davongetragen haben. Irgendetwas war dem Anästhetikum beigemischt, was ihnen nun Bauchschmerzen bereitet, sodass sie gar nicht so tief betäubt waren, wie ich dachte. Und auf einmal bemerke ich, dass die Musik nicht spielt. Zwar steht Toddy hinter dem DJ-Pult,
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