Betreutes Trinken
Hand schlägt auf Raffis Wange.
»Oh Gott, Scheiße, Raphael, alles gut?«
Keine Reaktion.
»Scheiße. Scheiße.«
»Hey Raffi, mach keinen Scheiß.«
»Raphael, hallo!«
Warum rufen alle nach Raffi, aber niemand einen …
»Okay, Krankenwagen ist unterwegs«, sagt Vladimir. Er springt hinter die Theke, beugt sich hinunter. »Keine Blut zu sehen. Herz schlägt. Alle ganz ruhig bleiben.«
Ich hätte nie gedacht, dass das funktioniert, wenn jemand sagt: »Ruhig bleiben«, nicht in so einer Situation. Nicht hier. Natürlich muss einer doch etwas sagen:
»Ups, sorry! Krieg ich mal ’nen Schnaps auf den Schreck?«
Manche Menschen sollten ihren Mund nur zum Singen öffnen. Bevor jemand zu Ray hingehen, um ihn, ganz ruhig, zusammenschlagen kann, krächzt eine Stimme aus dem Untergrund: »Ey, du Penner: Du hast Hausverbot. Ab jetzt.«
Im selben Moment, indem wir alle ausatmen, können wir schon die Sirene des Krankenwagens hören.
XVIII
I ch tippe auf Narkolepsie. Die Krankheit der Könige, das würde zu unserem Raffi passen«, lässt Albert seine Ferndiagnose verlauten und fegt ein paar Kuchenkrümel von der Theke.
»War das nicht die Bluterkrankheit?«, stellt Harald dem entgegen und wischt die Krümel vom Boden auf.
Die beiden wirken wie Figuren aus dem Märchenwald, die hinter einer Glasscheibe immer und immer wieder dieselben stupiden Handbewegungen vollführen. Sie taugen so gar nicht als Heinzelmännchen, aber auch wir anderen tun nur so, als ob wir putzen würden – oder könnten.
»Nein, Napoleon litt unter Narkolepsie, das ist historisch belegt«, doziert Albert, und Harald zuckt mit den Schultern: »Von der Größe her würde es passen.«
»Hey Leute, wie wäre es mit etwas ganz Profanem: Er säuft zuviel. Und deswegen ist er aus den Latschen gekippt. Endlich«, schnarrt Katja. Wütend knallt sie den Besen gegen die Wand.
»Ey Katja, nun mal locker, ich meine: so viel trinkt Raffi nun auch nicht, also im Vergleich zu, hier, wie heißt er, Dingens, hier, der mit dem Hut, der früher mal öfter hier war …«, versucht Holger, der erst mit den Sanitätern zusammen in die Kneipe gekommen ist, zu relativieren.
»Oh, du meinst Markus. Der ist vor einem halben Jahr gestorben. Leberversagen.«
Mann, ich hoffe, die Theatergruppe, die meinen Jugendlichen ihr Stück »Cool drauf?!« darbieten will, bringt ihre Message etwas subtiler rüber.
»Nun warten wir doch erst mal ab, was Marie sagt. Sie ruft bestimmt gleich an. Jeden Moment«, murmelt Holger und widmet sich der ihm zugeteilten Aufgabe. Er putzt seine Brille.
Seit einer Stunde warten wir auf den Anruf aus dem Krankenhaus, und damit wir uns nicht die Fingernägel abkauen, haben wir uns am Besenschrank bedient. Aber was unser Aktionsgrüppchen geschaffen hat, lässt sich als bestenfalls mit »Der Gedanke zählt, unvollendet« betiteln. Zu unserer Verteidigung muss ich sagen: Das Ziel unserer Aktion lag eher im akustischen als im visuellen Bereich. Wir wollten nicht hören, wie Vladimir Ray und die Ban Band unter Schreien und Fluchen aus dem Backstage schmeißt und anschließend in den Bandbus verfrachtet. Wir haben sofort die Rollläden heruntergelassen, um uns vor dem Unmut der Gäste vor der Tür abzuschirmen, und die, die noch im Laden waren, haben wir mit Postern und Buttons abgespeist und hinausgeleitet. Unser Vertuschungskommando hat ganz instinktiv gehandelt, wie bei jeder Umweltkatastrophe.
Allein Toddy hat dank solider Grundausbildung als Glaspolierer sein Soll erfüllt. Zum ersten Mal seit Jahren. Das Regal hinter ihm funkelt. Er selbst sieht umso verbrauchter davor aus: »Was ist, wenn Raffi nicht wiederkommt?«
»Dann musst du dir deinen Lohn selbst aus der Kasse nehmen, wie jedes Mal«, versucht Holger den Witz zu vervollständigen, aber dann fällt ihm auf, dass es keiner war.
»Dann werde ich nie wieder etwas trinken«, schwört Albert.
»Genau Albert, gut für den Umsatz, wird Raffi auch echt helfen«, stänkert Harald, aber bevor Albert ihm die restlichen Krümel in den Nacken werfen kann, rufe ich zur Ordnung: »Mann, Leute, streitet leiser, sonst hören wir das Telefon nicht.«
Alle halten den Mund und beäugen den Apparat an der Wand, aber der Trick hat noch nie funktioniert, auch nicht, wenn die Starrenden in der Überzahl sind.
Es will nicht klingeln und macht uns durch sein Schweigen immer aggressiver. Wenn Marie doch endlich anrufen und Entwarnung geben würde. Nur kurz Bescheid geben, sagen, dass alles ein
Weitere Kostenlose Bücher