Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition)
spricht nicht, weil er das nicht nötig hat. Allerdings wäscht er sich auch nicht, obwohl er das hin und wieder nötig hätte. Günther isst auch nichts, er nimmt höchstens beim Meditieren ab und zu einen Popel zu sich. Erst nach Wochen werde ich herausfinden, dass Günther heimlich isst, weil er einen der Schlüssel für den gemeinsamen Süßigkeitenschrank geklaut hat.
In den nächsten fünfzehn Monaten wird Günther mich die Kniffe des autistischen Trainings lehren, ganze Nachmittage werden wir regungslos auf dem Sofa sitzen und Gegenstände anlächeln, bis sie ihr wahres Wesen offenbaren, zurücklächeln oder von Horsti kaputtgemacht oder aufgegessen werden. Meist passiert Letzteres, und nicht immer sind es Lebensmittel. Wenn Günther ein bisschen Abwechslung will, setzt er seinen Walkman auf und hört Leerkassetten. Aber eigentlich ist Abwechslung unter seiner Würde, und wenn man Günther fragt, ob er nicht mal was unternehmen will, schaut er einen fünf Minuten lang ganz still aus seinen kleinen, leicht geschlitzten Augen an und erst dann schüttelt er ganz sacht den Kopf.
Nur ein einziges Mal in fünfzehn Monaten werde ich Günther überreden können, mit zum Minigolf zu fahren, und es gleich darauf bitter bereuen, denn er wird einhundertdreiundzwanzig Schläge für die erste Bahn brauchen, und auch das nur, weil sie ohne Hindernis ist. Und hinter uns werden sich drohend Familien auftürmen, mit kreischenden Kindern und brüllenden Vätern, und ein Platzwart wird kommen und greinen und viel Wehklagen wird sein an allen Bahnen. An der ersten Bahn aber wird geschlagene vier Stunden der kleine Mann mit der Glatze stehen und den Ball immer wieder ganz sacht mit seinem Schläger antippen und er wird lächeln dabei und seine kleinen, leicht geschlitzten Augen werden sagen: »Siehe, ich bin der Herr, dein Meister. Und du bloß ein gottverdammter Hektiker.«
Minigolfspielen gilt im Behindertenbusiness als Feuerprobe für Neulinge. Es dauert sogar ohne Günther endlos lange und die Regeln sind genauso kompliziert wie beim Cricket: Der Ball darf entweder mit dem Schläger, dem Fuß, der Hand oder irgendeinem anderen eigenen oder fremden Körperteil gespielt werden, außerdem kann er gestreichelt sowie in die Tasche gesteckt werden.
Ziel des Spiels ist es, den Ball in möglichst unwegsames Gelände zu spielen, wo er vom neuen Zivi gesucht werden muss, während die festangestellten Betreuer Kaffee trinken. Körpertreffer zählen nach Rang der Mitarbeiter gestaffelt: Neuer Zivi gilt einfach, Honorarkraft doppelt, und wer es schafft, die Leiterin abzuschießen, hat das Spiel zwar gewonnen, muss aber später mit Repressalien rechnen. Die Aufbauten an den Bahnen dagegen spielen überhaupt keine Rolle, die Löcher erst recht nicht.
Wer seinen Ball als Erster unwiederbringlich im Gulli versenkt hat, gewinnt die Partie, bekommt danach aber kein Eis, weil der Mann im Büdchen das Pfandgeld nicht wieder rausrückt. Trotzdem macht es irrsinnigen Spaß, aber das kann man nicht erklären, man muss es erlebt haben.
Aber das ahne ich alles noch nicht, denn noch stehe ich mit dem Keks in der Hand im Wohnzimmer der WG und versuche, meine Unsicherheit zu verbergen.
Ich setze mich erst mal hin, überlege ich, da kann man am wenigsten Schaden anrichten, und suche mir einen Platz hinter einer Palme, deren Stamm jemand mit Wachsmalstiften bemalt hat.
Nach einer halben Stunde höre ich einen Schlüssel im Schloss der Eingangstür knirschen. Von einem Tritt gestoßen, fliegt kurz danach die Wohnzimmertür auf und eine sehr beladene Frau im Alter meiner Mutter schiebt sich schnaufend durch die Tür. Sie hat ein Schlüsselbund im Mund.
»Wo zum Teufel ist Horsti?« nuschelt sie den kleinen Mann an. »Er sollte mir tragen helfen.« Der kleine Mann lächelt.
Die Frau stellt stöhnend ihre Einkaufstaschen ab und spuckt den Schlüsselbund auf den Tisch. »Warst du schon duschen?«, fragt sie ihn. »Du musst doch gleich zum Arzt.«
Der kleine Mann schüttelt den Kopf.
»Wieso? Ach, was frage ich da noch.«
Die Frau mit Downsyndrom kommt ins Wohnzimmer zurück und fängt an, die Taschen zu durchwühlen. Radieschen kullern über den Boden.
»Milva«, sagt die Taschenfrau, »lass uns das bitte in der Küche einsortieren.«
Die Milva Genannte sagt, dass sie ihre Schokoriegel aber jetzt brauche, weil sie unterzuckert sei.
»Du hast keinen Diabetes, Liebes. Das haben wir sogar schriftlich. Und wieso ist außer euch niemand hier?«
»Ich
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