Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition)
bin da«, sage ich hinter meiner Palme.
»Wer?«
»Ich. Neuer Zivi. Guten Tag.«
Ich stehe auf und stelle mich vor.
»Ach«, sagt sie, »dich schickt der Himmel. Entschuldigung, Sie schickt der Himmel.«
Ich antworte, dass wir gern beim Du bleiben können. Sie nickt. Ich werde in den folgenden fünfzehn Monaten beim Sie bleiben, sie wird beim Du bleiben.
»Du kannst gleich anfangen. Lass dich von Milva einweisen, ihr könnt die Sachen einsortieren, Süßigkeiten bitte in den Taschen lassen, die werden weggeschlossen. Klingt blöd, erklär ich dir später, oder lass es dir von Milva erklären. Dann bitte Kaffee machen, das wär wahnsinnig nett, ich muss ganz schnell mit diesem jungen Mann duschen gehen. Gib mir eine Viertelstunde, dann bin ich wieder da und sage anständig Hallo. Tut mir leid, normalerweise sind wir hier nicht so …«
Sie scheint nach einem Wort zu suchen.
»Schon o. k.«, sage ich, sie winkt ab.
»Nett von dir. Ich bin Christiane Bernau, Leiterin dieses ehrenwerten Hauses. Das ist Günther und das ist Milva, also eigentlich Andrea.«
»Milva«, sagt Milva.
»Sei bitte nett zu dem Jungen. Verscheuch ihn mir nicht.«
Milva nickt.
Sie winkt Günther zu sich heran und der folgt zögernd.
In der Tür dreht sie sich plötzlich um.
»Ach was, ehrlich gesagt: Es ist immer so. Schön, dass du da bist.« Dann dreht sie sich nochmal um.
»Kann jemand bitte den Kaffee im Flur wegwischen?«
»Ja«, sage ich, »kann ich machen.«
»Normalerweise der, der ihn dort hingekleckert hat.«
»Das war Horsti«, lügt Milva, ich mache es dann aber trotzdem.
»Ja«, sage ich zu Milva, als ich die Beutel auf dem Küchentisch absetze, »dann erzähl mal: Wo kommt denn alles hin?« und komme mir augenblicklich blöd vor, weil ich so einen Kindergartenton angeschlagen habe. Milva sagt, das sei zu kompliziert zum Erklären, da müsse man sich nämlich auskennen und ich solle mich lieber hinsetzen.
»Bist du sicher, dass die Snickers hinter die Küchenbank gehören?«, stelle ich irgendwann meine erste dienstliche Frage und bin sicher, sie nicht zum letzten Mal gestellt zu haben.
Milva fragt, ob sie hier wohnen würde oder ich. Meine erste Lektion als Zivildienstleistender lautet also: Wer Kindergarten sät, wird Kaserne ernten.
8 Ich sitze im Rollstuhl und lasse mich am Kölner Hauptbahnhof von zwei Wehrpflichtigen die Treppe hinuntertragen. Natürlich hätte ich auch den Fahrstuhl nehmen können, aber das hätte nicht zu meiner Rolle gepasst. Ich verkörpere den Typus des anstrengenden Behinderten, der leicht nach Pipi riecht, seine Mitmenschen feindselig anstarrt und wütende Selbstgespräche führt. Eigentlich bin ich dreißig Jahre zu jung für diese Rolle und habe mindestens ein Bein zu viel, aber zwei Wochen Biertrinken und Langeweile in der Zivildienstschule Waldbröl haben mich trotzdem ganz gut vorbereitet: Ich sehe rechtschaffen verlottert aus. Allerdings rieche ich bloß nach Alkohol und nicht nach Pipi, ich habe es einfach nicht gebracht, mich einzunässen. Irgendwo ist auch mal Schluss mit der Selbsterfahrung.
Heute ist nämlich Selbsterfahrungstag. Die Zivildienstschule hat uns mit ausrangierten Rollstühlen ausstaffiert und beauftragt, die Welt einen Tag lang mit den Augen eines Rollstuhlfahrers zu betrachten.
Die meisten Zivildienstkollegen werden aber bloß die Kölner Brauhäuser mit den Augen sehr durstiger Rollstuhlfahrer betrachten, ihre Gefährte im Laufe des Abends dort vergessen, bzw. vergeblich bei einem windigen Türken am Eigelstein gegen eine Stange geschmuggelter Zigaretten einzutauschen versuchen.
Sven und Otze haben sich mit ihren Skaterfreunden auf der Domplatte verabredet, weil sie gewettet haben, dass sie den Kickflip Nose-Wheelie nicht nur mit dem Board, sondern auch im Rollstuhl hinkriegen. Und kurz bevor ihr Stuhl den Geist aufgibt, werden sie es tatsächlich geschafft haben, aber noch schreddern sie Bordsteinkanten, weil sogar der Tailslide im Rollstuhl eben doch schwerer ist als gedacht. Weil er nämlich gar keinen Tail hat, der Rollstuhl.
Andreas und Lutz haben ihren Rollstuhl mit zahllosen Rucksäcken und Taschen behängt und wollen ihn als Tarnung für den größten Raubzug in der Geschichte des Kölner Einzelhandels benutzen. Behinderte verdächtigt nie jemand, haben sie behauptet, als sie ihre Tonträger-Safari planten, aber diese Rechnung haben sie ohne die Ladendetektive gemacht, und nur dem Überraschungsmoment des plötzlich aus seinem Rollstuhl
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