Betrogen
betrachte.«
Er buchte ein Apartment-Hotel, das mehrere Stufen über dem Autobahn-Motel stand, obwohl es im Vergleich zu Chiefs Standard immer noch bescheiden anmutete. »Sie haben doch keine Kreditkarte benutzt, oder?«, fragte sie, als er aus der Hotelhalle wieder zum Wagen kam.
»Bargeld. Der Portier wollte das Nummernschild vom Auto wissen.«
»Das wussten Sie?«
»Nein, ich habe eine Nummer erfunden, was er aber nicht überprüft hat. Er hat mir nur augenzwinkernd einen angenehmen Aufenthalt gewünscht. Der denkt, wir seien für ein nachmittägliches Vergnügen hier. âne schnelle Nummer.«
Offensichtlich. Der Portier hatte ihnen ein Zimmer mit einem groÃen Doppelbett gegeben, worüber keiner eine Bemerkung
fallen lieÃ. Da alles vom Verlauf des Abends abhing, waren sie vielleicht gar nicht lange genug hier, um auch die Nacht zu verbringen. Und wenn doch, gab es immer noch das Klappsofa im Wohnzimmer. Dort würde sie schlafen. Eine Nacht mit Chief im selben Zimmer würde sie aus mehreren Gründen irritieren. Die meisten davon bereiteten ihr schon beim Gedanken daran Unbehagen. Unter den gegebenen Umständen schien ihr auch der leiseste Hauch von Intimität mit ihm unangebracht. Ironischerweise waren gerade diese Umstände an ihrem Beisammensein schuld.
Wer könnte seine Ausstrahlung leugnen? Selbst die matronenhafte Linda Croft hatte auf seinen natürlichen Charme reagiert. Jede Frau, die sich über längere Zeit mit ihm in einem Raum â zumal einem kleinen intimen Raum â aufhielt, würde romantische Gefühle entwickeln, selbst wenn die Chance auf Realisierung gegen Null tendierte.
Selbstverständlich stand jede Intimität zwischen ihr und Chief auÃer Frage. Zu diesem Zeitpunkt. In dieser Situation. Und angesichts der Tatsache, wer sie waren.
»Ich werde mich mal frisch machen.« Sie ging ins Bad.
Als sie mehrere Minuten später wieder herauskam, saà Chief am FuÃende des Bettes und sah fern. Er winkte sie zu sich und stellte lauter. »Ist das nicht der Kerl?«
Sie setzte sich neben ihn. »Das ist er.«
Bruder Gabriels Antlitz füllte den Bildschirm. Man präsentierte ihn buchstäblich von seiner Schokoladenseite. In seinem cremefarbenen Anzug und dem pastellblauen Hemd mit passender Krawatte wirkte er wie ein Symbol für die Reinheit von Körper und Seele. Seine peridot-farbenen Augen schienen von innen heraus zu strahlen.
»Sieht gut aus, nicht wahr?«
»Vermutlich, wenn man auf diesen englisch-blonden Typ steht.«
Sie warf ihm einen spöttisch-kritischen Blick zu und konzentrierte sich wieder auf Bruder Gabriels Worte. »Du fühlst
dich verloren und einsam, sogar unter Menschen, die behaupten, dich zu lieben. Ich verstehe dieses Gefühl der Entfremdung. Deine Eltern sind nie mit dir zufrieden. Dein Chef stellt unsinnige Forderungen an dich. Deine Kinder erweisen dir keinen Respekt. Menschen, die sich Freunde nennen, schmähen und betrügen dich. Vielleicht macht dich sogar dein Ehepartner lächerlich und gibt dir das Gefühl, unwichtig zu sein.«
»Hör mir zu«, sagte er, wobei er seine weiche Stimme auf einen noch tieferen vertraulicheren Tonfall schraubte. »Hörst du zu, mein Kind? Wenn dich der Klang meiner Stimme erreicht, hörst du die Stimme dessen, dem du wirklich wichtig bist. Höre, was ich sage, denn davon hängt in alle Ewigkeit deine Zukunft ab.«
Seine Pause hatte einen dramatischen Effekt. AnschlieÃend betonte er mit Nachdruck: »Für mich bist du nicht unwichtig. Ich liebe dich. Ich will dich vor der Missachtung schützen, die dir andere angedeihen lassen: Eltern, Vorgesetzte, Lehrer, Freunde, Ehefrauen, Ehemänner â alle, deren Liebesbeteuerungen falsch sind. Falsch«, betonte er.
»Ich will deine Zuflucht sein und dich in meine Familie aufnehmen, die groà ist, ja. Sie hat schon Millionen Mitglieder. Und doch habe ich darin einen Platz für dich reserviert. Nur für dich. Wenn du diesen ganz besonderen Platz nicht einnimmst, wird er leer bleiben.«
»Ich weiÃ, was du denkst. Woher kann Bruder Gabriel mich kennen? Hör mich an. Diese Zweifel erweckt der Teufel. Nähre sie nicht. Leugne sie. Tochter, Sohn, geliebter Mensch«, sagte er leise, »ich kenne dich. Ich will dich bei mir in der neuen Weltordnung haben.«
»Neue Weltordnung? Was soll das heiÃen?«,
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