Betrügen lernen
Mafiaboss in diesem Film »Reine Nervensache«. Er sucht einen Psychiater auf, weil ihm das Töten keinen Spaß mehr macht und er einfach zu sensibel ist. Deshalb geht er auch zu einer Prostituierten, weil er von seiner eigenen Frau doch nicht Dinge verlangen kann, die sie nicht mag. Und wenn sie dann mit dem Mund, mit dem sie ihn bearbeiten soll, auch noch seine Kinder küsst, erfüllt ihn geradezu ein tiefer Abscheu. Was für eine Vorstellung. Nein, das geht gar nicht.
Vielleicht könnte ich Clara dafür ganz andere Dinge sagen, etwa dass sie permanent ihre Schlüssel verlegt und notorisch Strafzettel wegen Geschwindigkeitsübertretung bekommt, die dann aber an mich adressiert sind, obwohl doch eindeutig sie auf dem Bild von der Ortsdurchfahrt in der Nähe von Darmstadt zu erkennen ist. Aber »Du Raserin und Schlüsselverliererin« wird Clara kaum scharf machen, oder? Dass sie ganz schön wild oder geil oder was auch immer ist, will ich ebenfalls nicht zu ihr sagen, denn das merkt sie ja am besten selbst, wenn es so weit sein sollte.
Ich sage ja auch nicht zu ihr, dass sie aber ganz schön hungrig ist, wenn sie ihren Teller leer isst. Vielleicht sind mir unzählige Stunden erfüllter Sexualität entgangen, weil ich im Bett meistens gar nichts sage, erst recht nicht irgendeinen Schweinkram. Aber ich weiß eben auch, dass man in der Liebe authentisch bleiben muss und sich nicht verstellen soll. Alles kann, nichts muss. Deshalb bleibe ich lieber still.
Ich würde auch niemals mit Clara Pornofilme anschauen, um »in Stimmung zu kommen«, wie das immer genannt wird. Das wäre mir wahrscheinlich peinlich wegen der schlechten Dramaturgie der Filme, und für sie kommt das sowieso nicht infrage. Ich weiß eigentlich persönlich von keiner Frau, die sich so etwas freiwillig anschaut. Vielleicht zur Belustigung, aber nicht als erotische Stimulation. Und Sexspielzeug? Das kommt mir zu albern vor. Ich denke, wenn man so etwas nötig hat, kann man sich gleich Stützstrümpfe kaufen. Derartige Hilfsmittel lehne ich entschieden ab, ebenso wie Konservierungsstoffe und diese ganzen Lebensmittelzusätze mit den E-Nummern.
Ohne Orientierung
Sie verhaspelt sich. Beim Umziehen wirft sie immer wieder die Strümpfe durcheinander. Dann reißt sie sich eine Laufmasche. Sie probiert verschiedene Kleider an. Das eine ist zu festlich, das andere zu gewöhnlich und das nächste fällt so sackartig. Vielleicht sollte sie doch besser einen Rock anziehen? Dann entscheidet sie sich für Hose und Bluse, zieht beides gleich wieder aus und wirft alles auf ihr Bett. Sie duscht erst mal. Clara war lange nicht mehr so durcheinander. Sie ist nervös, vielleicht ist sie auch verliebt. Sie weiß nicht, was sie von Raffael Steinberg halten soll. Er ist frech, er ist dreist, und manchmal wirkt er so, als ob er wahnsinnig geschmacklos sein könnte.
Donnerstagabend, sie ist wieder früh im Hörsaal. Wieder der Platz in der fünften Reihe, ganz außen. Langsam wird es zum Ritual.
Neben Clara sitzt eine junge Frau. Sie hat knallig hennarot gefärbte Haare, grell roten Lippenstift aufgetragen und riecht wie ein orientalisches Gewächshaus. Sie trägt Armreife aus Holz und ein weit ausgeschnittenes, wild gemusterte, indisches Kleid, wie es längst im Museum für untergegangene Jugendkulturen zu finden sein müsste. Sie sieht trotz dieser Verkleidung eigentlich ganz nett aus, nur ihre Brüste bietet sie viel zu offensiv an, findet Clara.
Clara käme nie auf die Idee, ein so offenherziges Dekolleté zu tragen. Andererseits ist sie auch nicht der Typ dafür. Sie hat kleine Brüste, steht aber selbstbewusst dazu. Als sie das letzte Mal vom Frauenarzt routinemäßig gefragt wurde, in welchem Alter das Wachstum ihrer Brüste begonnen habe, antwortete sie: Ich warte heute noch darauf.
»Ich glaube, er findet mich interessant«, sagt die Henna-Nachbarin ungefragt zu Clara, bevor Raffael Steinberg überhaupt die Bühne betreten hat. »Er sieht immer zu mir herüber.«
Blöde Pute, denkt sich Clara. Wie kann dieses feuerrote Spielmobil mit den billigen Ethnoklamotten nur auf so eine absurde Idee kommen? Wie kann sie Raffaels Blicke auf sich beziehen?
»Das ist doch nur seine übliche Masche«, sagt Clara und versucht dabei, möglichst abgeklärt zu wirken. »Man lernt in jedem Rhetorikseminar, den Leuten zu vermitteln, dass nur sie gemeint sein können und kein anderer. Direkte Ansprache und so, Publikumsbindung. Würde ich nicht so schnell drauf
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