Betrügen lernen

ultimative Erpressung. »Du kannst es dir ja überlegen«, sagt sie, als ob ich in meiner Entscheidung frei wäre. »Entweder du lässt dich sterilisieren, oder es läuft gar nichts mehr.«
    Mit anderen Worten: Sie will unsere schon mächtig ab gekühlte Beziehung aus dem Kühlschrank ins noch kältere Gefrierfach legen und sie erst am Sanktnimmerleinstag wieder auftauen.

Was ist denn schon dabei?
    Auch ein paar Tage nach dem Vortrag ist Clara noch verwirrt. Raffael Steinberg hat bei ihr Saiten zum Klingen gebracht, die sie schon lange nicht mehr gespürt hat. Schlimmer: Sie hat gar nicht mehr gewusst, dass diese Saiten bei ihr überhaupt noch existieren, so wenig hat Alex sie in den letzten Jahren ihrer Ehe in Schwingung zu versetzen vermocht.
    Die ganze Woche über fühlt sich Clara sonderbar berührt. Wie seltsam es ihr auf einmal vorkommt, womit sie ihre Tage verbringt. Die Männer, die sie in Behandlung hat und die wegen Erektionsstörungen zu ihr in die Klinik kommen, kreisen nur um sich und ihren Unterleib. Sie reden von ihren Schwierigkeiten, können minutiös schildern, wann und wo und wie oft und mit wem es bei ihnen nicht klappt – aber über ihre Beziehungen und darüber, wie es ihren Frauen in der Partnerschaft geht, verlieren sie kein Wort.
    Sie hat auch jüngere Patienten unter 30. Wenn sie von ihren Ehen, Lieben, Freundschaften und ihren Potenzproblemen erzählen, geht es nur um den kleinen Mann da unten. Der soll gefälligst wieder in Ordnung gebracht werden, so wie ein gebrochenes Bein, das nur mal für kurze Zeit geschient oder eingegipst werden muss, und dann läuft alles wieder.
    Sex halten die meisten von Claras Patienten offenbar für so selbstverständlich wie einen funktionierenden Drucker im Büro. Wenn es nicht klappen sollte, kommt der Servicemitarbeiter und wechselt die Patrone oder entfernt verklemmtes Papier. Doch so läuft das nicht. Ihre Patrone lässt sich nicht wechseln, das ahnen die meisten Männer vielleicht schon. Aber dass es sich nicht allein um ein mechanisches Problem bei ihrer Impotenz handelt, verdrängen viele Männer.
    Wie anders und um wie vieles einfühlsamer ist da der Blick von Raffael Steinberg auf das fragile Beziehungsleben von Mann und Frau! Füreinander interessant bleiben, sich gegenseitig überraschen, den anderen verführen, eine Affäre mit dem Partner beginnen, all das hat er empfohlen. Und er hat erklärt, warum das so wichtig ist. Dieser Mann ist anscheinend doch kein aufgeblasener Wichtigtuer, sondern er weiß, was sich Frauen wünschen – und was Männer nur allzu selten geben können.
    Schon am Mittwoch kann Clara tagsüber kaum an etwas anderes denken als an das Seminar am nächsten Abend. Ob er sie wohl wiedererkennen und anlächeln wird? Fünf weitere Doppelstunden bietet Steinberg an, mittlerweile ist sie fest entschlossen, das Gesamtpaket zu buchen und nicht nur die Schnupperstunde am ersten Kurstag.
    Am Donnerstag ist Clara deutlich früher da als die Woche zuvor. Sie will sichergehen, dass sie möglichst weit vorn sitzt. Nicht ganz vorn, das wäre zu übertrieben und außerdem ein bisschen streberhaft. Sie ist ja nicht in der Schule. Aber nicht weiter hinten als in der fünften Reihe sollte es schon sein. Der Hörsaal füllt sich wieder bis auf den letzten Platz. Wahrscheinlich hat sich herumgesprochen, wie charmant und attraktiv Raffael – Clara nennt ihn für sich bereits Raffael – ist und wie spannend er sein Seminar gestaltet.
    »Ich hoffe, ihr wisst jetzt schon ein bisschen besser, was ihr wollt«, beginnt Raffael seine Ausführungen. Er kommt gleich zur Sache, ohne seine langen Pausen zu Anfang.
    »Drei kurze Fragen – und seid bitte ehrlich zu euch, das seid ihr euch schuldig. Erstens: Habt ihr erkannt, welche Energien ihr noch in euch tragt? Das ist mehr, als ihr glaubt. Zweitens: Seid ihr nur noch aus Bequemlichkeit mit euren Partnern zusammen oder weil tatsächlich noch ein Feuer in euch und füreinander brennt?« Raffael Steinberg schaut auffordernd in die Reihen. Hat er nicht gerade Clara zugezwinkert, oder bildet sie sich das nur ein? »Und drittens: Habt ihr den Mut, euer Leben und eure Lust wieder selbst in die Hand zu nehmen?«
    »Ich wette, tief drin ahnt ihr es schon lange, und ihr kennt die Antworten selbst, auch wenn es vielleicht nicht schön ist, sich das eingestehen zu müssen.«
    Raffael Steinberg dreht vor der ersten Hörsaalreihe seine Runden, jetzt dreht er seinen Zuhörern den Rücken zu, dann eine halbe