Betrügen lernen
möglicherweise ein schlimmerer Grad der Verwirrung als die übliche Unzurechnungsfähigkeit von Patienten, die hier einlaufen. Ich bin für einen Wahleingriff hier, den ich auch noch selbst bezahlen muss. Ihr zuliebe. Bisher habe ich allerdings weder eine Narkose bekommen, noch bin ich anderweitig betäubt. Im Gegenteil. Meine Sinne sind aufs Äußerste geschärft. Ich nehme jede Regung von Arzt und Pfleger gespannt wahr und erwarte alsbald stechende Schmerzen am Gemächt.
Die örtliche Betäubung in den Hodensack ist tatsächlich nicht schlimmer als die Spritze beim Zahnarzt. Sie beginnt bald zu wirken, das Einzige, was ich unterhalb des Bauchnabels noch spüre, ist das braune Desinfekti onsmittel, das mir langsam zwischen den Beinen entlang rinnt. Von diesem Moment an spüre ich am Ort des Geschehens nur noch ein dumpfes Drücken und Ziehen.
Ich habe allerdings das Gefühl, dass meine Hoden auf Rosinengröße geschrumpft sind und der Urologe besser eine Lupenbrille aufgesetzt hätte, um sein Werk ordent lich zu verrichten. Ich spüre nichts, und das erinnert mich an das taube Gefühl im Schritt, das immer dann einsetzt, wenn ich Rennrad fahre und die Steigung sich in die Länge zieht und dann der Satteldruck erst meinen Damm blockiert und dann meinen halben Unterleib lahmlegt.
Während der Arzt, der mir eigentlich Vertrauen einflößen könnte, mit ruhiger Hand meinen Hodensack aufschneidet, Bindegewebe beiseitedrängt und dann den Samenstrang freilegt, male ich mir aus, was jetzt alles noch passieren könnte: Es könnte aus der mein Gemächt versorgenden Arterie bluten, Nerven könnten irreversible Schädigungen davontragen, mein Penis könnte verletzt werden und für immer eine kleine, aber entscheidende Funktionseinschränkung behalten. Natürlich drohen auch örtlich begrenzte Infektionen, die sich unglücklicherweise zu einer Bauchfellentzündung ausweiten und leider, leider eine Amputation unumgänglich machen könnten. Wir haben alles versucht, so etwas kommt absolut selten vor, aber man steckt ja nicht drin, höre ich die Ärzte sagen.
Der Urologe durchtrennt meine Samenleiter, verödet und verknotet anschließend die abgeschnittenen Enden und verschließt an beiden Seiten des Hodens mit jeweils drei Stichen die Wunde. Meine Fantasie geht mit mir durch: dick angeschwollene, bläulich verfärbte Hoden, Schmerzen beim Wasserlassen, eine drohende Blutvergiftung, Impotenz und manchmal Inkontinenz, langes, qualvolles Siechtum, chronisches Elend.
Eigentlich bin ich ein zuversichtlicher, optimistischer Mensch. Bei einem so lächerlichen Eingriff wie einer Sterilisierung bräuchte ich doch keinen Gedanken an etwaige Komplikationen oder Folgeschäden zu verschwenden. Während der erfahrene Urologe sein Handwerk routiniert an meinen Genitalien verrichtet, blättert sich mir mein ganzes lebensweltliches Unbehagen gegenüber diesem Eingriff auf. Nichts wie weg hier, ich muss hier raus!
Was, wenn sich herausstellt, dass meine Kinder doch nicht meine Kinder sind? Ein Versehen in der Klinik, eine Verwechselung? Und was ist mit diesen angeblich zehn Prozent Kindern, die doch nicht von dem Mann abstammen, der glaubt, ihr leiblicher Vater zu sein? Was, wenn irgendwann später das Bedürfnis nach eigenen Kindern wieder aufkommt? Was, wenn sich die Lebensumstände plötzlich ändern, als Mann bleibt man ja theo retisch bis ins hohe Alter zeugungsfähig, es sei denn, man lässt sich in schwarz gekachelten Räumen von schwulen Pflegern seiner Männlichkeit berauben. Was, wenn vorhin beim Rasieren die Klinge abgerutscht ist und ich das Malheur erst bemerke, wenn die Narkose nachgelassen hat?
Wahrscheinlich sind sie gerade dabei, das Blut auf den Fliesen aufzuwischen, die Spritzer an den Wänden zu entfernen und die schlimmsten Schäden vor Ort in einem Noteingriff zu reparieren oder das Malheur anderweitig zu vertuschen. Ich spüre wegen der örtlichen Betäubung nur nichts davon, aber das Erwachen wird fürchterlich.
Der Arzt unterbricht meine schwarzen Gedanken. Wie, was, das war es schon, er ist bereits fertig? Ich bekomme eine weitmaschige Netzunterhose verpasst, die lächerlich aussieht und sich noch lächerlicher anfühlt. Noch ist mein Schritt völlig betäubt, es fühlt sich an, als ob ich Watte in der Hose hätte. Ich bin ein Mann ohne Unterleib.
»Nicht erschrecken, aber sie werden an den Hoden blaue Flecken bekommen«, sagt mir der Arzt seelenruhig, während er sich mit diesem hässlichen Ratschgeräusch die
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