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Betrügen lernen

Betrügen lernen

Titel: Betrügen lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Bartens
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manche Stämme in Pakistan nach dem Beschneidungsritual die Vorhaut aufbewahren.
    »Schau ihn dir genau an«, fordert Raffael sie auf.
    Clara streift den Armreif wieder ab, bewundert das filigrane Muster und sieht die Gravur in der Innenseite. »Für die Eine unter Millionen«, steht da in feiner, kaum zu lesender Schrift.
    Schmuck beim ersten Rendezvous? Sie ist gerührt und ein bisschen verlegen. »Du bist zauberhaft«, sagt sie. »Aber du warst noch nicht fertig mit deiner Geschichte von Patagonien, erzähl weiter.«
    »Ach, das ist nicht so wichtig, ich will viel mehr von dir erfahren.«
    »Bitte, erst zu Ende erzählen.«
    »Und dann wusste ich irgendwann, ich musste mich entscheiden, ich musste herausfinden, was wirklich für mich wichtig ist, was zählt«, sagt Raffael. Jetzt schaut er Clara lange an.
    Er greift ihre Hand wieder, streichelt mit dem Zeigefinger über ihren Handrücken und die einzelnen Finger, dann wird sein Griff plötzlich fester. Er lässt nicht los und sagt stattdessen: »Komm!«

Signale an der Bar
    Wir sitzen an der Bar. Valerie und ich sind bisher die einzigen Gäste hier. Sie leitet eine Nachwuchsgruppe in Trier. Mich hat dieser Kongress in Rostock gereizt, obwohl es die erste Tagung ist nach meiner Operation und ich mich noch ein bisschen schonen sollte, wie der Arzt mir augenzwinkernd mitgab. Aber ich wollte unbedingt hinfahren, weil mich diese Sinnenlust fasziniert, die der Osten Deutschlands verströmt, diese verspielte Kuschelecke der Republik. Wie oft haben wir in Vorträgen die Zahlen und Kasuistiken gehört – wie viel mehr Sex die Ostdeutschen haben, wie viel zärtlicher sie miteinander umgehen, wie viel befreiter und liebeslustiger und tabuloser sie sind.
    Regelmäßig bekomme ich jedes Jahr die neuesten Umfragen über das Sexualverhalten der Deutschen zuge schickt. Diverse Kondomhersteller publizieren die Daten. Erstaunlicherweise ist immer wieder zu erfahren, dass die Deutschen im Durchschnitt 104-mal im Jahr miteinander ins Bett gehen, die Ossis eher mehr, die Wessis eher weniger.
    Man muss kein Mathematikgenie sein, um zu erkennen: 104-mal im Jahr, das ist exakt zweimal die Woche. Die Kondomhersteller haben wahrscheinlich gar keine Umfrage gemacht, sondern nur die alte Regel Martin Luthers statistisch umgesetzt: »In der Woche zwei bis vier, schadet weder ihm noch ihr.« Da die Kondomhersteller wissen, dass auch der alte Reformator ein alter Angeber und noch dazu gebürtiger Ossi war, haben sie sich trotzdem an den unteren Wert seiner Empfehlung gehalten.
    Um an landsmannschaftlichen Stolz und patriotisches Stehvermögen zu appellieren, gibt es in den einschlägigen Statistiken Unterschiede zwischen den Bundesländern. Jedes Mal liegt Meck-Pomm weit vorn – auch dies wohl eine Reminiszenz an die Kuschel-Ossis, bei denen alles viel liebevoller und menschlicher zuging. Zudem leben dort eh kaum noch Menschen – und die müssen sich nun mal ziemlich oft paaren, um nicht ganz auszusterben. Vielleicht gibt es im Osten aber tatsächlich irgendeine Substanz, die aus den alten Tagebauen strömt und die Frauen liebestoll macht. Das müsste sich ja auf Kon gressteilnehmerinnen aus dem Westen auch entsprechend auswirken.
    Es muss hier ganz ähnlich sein wie in Patrick Süskinds Roman »Das Parfum«. An dem Tag, an dem der Held Jean Grenouille hingerichtet werden soll, verteilt er sein aus verliebten Jungfrauen gewonnenes Parfum auf dem Schafott, und es verbreitet sich buchstäblich in Windesei le auf dem Marktplatz. Daraufhin kann die schaulustige Bevölkerung, die eigentlich dem Henker bei seinem blutrünstigen Tun zuschauen wollte, nicht mehr an sich halten. Sie ist so betört, dass sie sich plötzlich die Kleider vom Leib reißt, in einer wilden Orgie übereinander herfällt und sich hemmungslos liebt. Eros statt Tod.
    Ich hatte mich mal vor langer Zeit in Barcelona in eine Frau verliebt. Sie sagte, dass sie als Hebamme arbeiten würde und so alt sei wie Jesus, als er gekreuzigt wurde. Da waren Fortpflanzung wie auch die Vergänglichkeit bereits mitgedacht. Eros und Tod, das war wie die besondere Atmosphäre in den Anatomiekursen der Mediziner, die angeblich nach dem Unterricht nur umso leidenschaftlicher übereinander herfallen, als ein Triumph über die Toten und als eine Feier des Lebens. Vielleicht ist das Wissen um Niedergang, Ende und Vergänglichkeit auch der Grund für die Leidenschaft der Ossis.
    Ich bin vorhin durch die Stadt gelaufen, immer auf der Suche nach dem

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