Betrug und Selbstbetrug
wohltätige Organisation gespendet, obwohl dies nicht stimmt. Wenn sie gewählt haben, galt ihre Unterstützung in ihrer Erinnerung dem siegreichen Kandidaten, auch wenn sie in Wirklichkeit einem anderen ihre Stimme gegeben haben. Ihre Kinder waren in ihrer Erinnerung reifer und begabter als in Wirklichkeit. Und so weiter.
Häufig hält man Erinnerungen für Fotos, die im Laufe der Zeit unschärfer werden; in Wirklichkeit wissen wir aber, dass Erinnerungen ständig neu aufgebaut werden und leicht zu manipulieren sind. Die Menschen erschaffen also ihre eigenen Erinnerungen ständig neu, und diesen Prozess kann man bei einem anderen relativ einfach beeinflussen. 5 Wenn ein Polizist einen Zeugen nach einem nicht existierenden roten Sportwagen in der Nähe eines Unfallortes fragt, wird er von diesem roten Sportwagen häufig auch in dem nachfolgenden Verhör wieder hören – manchmal ist er am Ende eines der Details, an die der Zeuge sich im Zusammenhang mit dem Unfall am lebhaftesten erinnert. Wie bereits erwähnt, kann unterschiedliches Nacherzählen im Nachhinein sehr zuverlässig Erinnerungsverzerrungen hervorrufen.
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel. Medizinische Informationen werden in der Erinnerung selbst dann leicht verzerrt, wenn sie auf sehr eindeutige, leicht zu merkende Weise präsentiert werden. Bei einer Reihe von Versuchspersonen wurde der Cholesterinspiegel gemessen, und dann wurden sie einen, drei und sechs Monate später nach ihrem Befund gefragt. In der Regel (zu 89 Prozent) konnten sie dabei ihre Risikokategorie zutreffend angeben, und die Erinnerung daran ließ im Laufe der Zeit nicht nach; mehr als doppelt so viele Versuchspersonen nannten aber aus dem Gedächtnis einen Cholesterinspiegel, der unter dem tatsächlich gemessenen lag. Ähnliche Verzerrungen gibt es auch bei Alltagserlebnissen: Menschen erinnern sich an eigenes gutes Verhalten leichter als an schlechtes, zeigen aber keine solche Einseitigkeit in ihren Erinnerungen an das Verhalten anderer.
Oder aber wir erfinden völlig fiktive Erinnerungen. Es heißt bei uns nicht von ungefähr: »Mein Gedächtnis ist so gut, dass ich mich sogar an Dinge erinnern kann, die nie geschehen sind.« Einen denkwürdigen Fall habe ich selbst erlebt. Jahrelang hatte ich erzählt, wie ich 1968 an der Harvard University ins Innerste der Widener Library vorgedrungen war und ein 1948 erschienenes Buch gefunden hatte, dessen Coautor mein Vater war. Es war vom Außenministerium herausgegeben worden und beschrieb die Entnazifizierung all der Nazis, die nicht so wichtig waren, dass man sie in Nürnberg hingerichtet hätte. Es war ein kompliziertes, abgestuftes System. Mitglieder der SA erhielten zwei Schläge aufs Handgelenk; war man in der SS gewesen, bekam man für fünf Jahre Berufsverbot – solche Dinge. Fast nichts davon stimmt. Ein solches Buch existiert nicht. Der Ausflug in die Bibliothek fand tatsächlich statt, und ich fand auch ein vom Außenministerium herausgegebenes Buch über die Nazis, dessen Coautor mein Vater war. Es war aber schon 1943 erschienen und enthielt eine kleine Abhandlung über die Struktur der Naziorganisationen in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten. Als Grundlage für die Neuerfindung Deutschlands hätte es kaum getaugt, aber geht es bei falschen Erinnerungen nicht gerade darum, Dinge und insbesondere den Anschein zu verbessern? Im Laufe der Zeit fügte ich ein paar hübsche Details hinzu. Ich erzählte beispielsweise gerne, ich würde niemandem und nicht einmal mir selbst trauen, und deshalb sei ich in die Bibliothek gegangen, um festzustellen, ob die Erzählung aus meiner Familie stimmte. Das trug aber nur zur Unwahrheit bei, denn in Wirklichkeit gab es keine »Familienerzählung« über diese kleine Abhandlung von 1943 . Auch das ist ein allgemeines Merkmal der Konstruktion falscher Erinnerungen: Wir fügen neue Details hinzu, die für die allgemeine Aussage sprechen und dann zu einem Teil der Erinnerung werden.
Man kann sogar um 180 Grad verdrehen, wer was zu wem gesagt hat. Gore Vidal erinnerte sich an ein Interview mit Tom Brokaw in der NBC -Vormittagssendung Today Show . Darin erkundigte Brokaw sich zunächst danach, was Vidal über Bisexualität geschrieben hatte, und der Autor erwiderte, er sei hier, um über Politik zu reden. Aber Brokaw fragte weiter hartnäckig nach der Bisexualität; Vidal blieb standhaft, bis sie sich schließlich auf die Politik konzentrierten. Als Brokaw Jahre später gefragt
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