Bettler 01 - Bettler in Spanien
nicht stimmte, haßte sich selbst, weil es nicht stimmte – aber sie haßte Mami noch mehr, und das war auch etwas Böses, und dort saß Alice, ganz starr und mit aufgerissenen Augen. Alice hatte Angst, und das war nur ihre, Leishas, Schuld!
Mami rief die Kinderfrau. »Bringen Sie Leisha auf der Stelle in ihr Zimmer! Es geht nicht an, daß sie mit kultivierten Menschen an einem Tisch sitzt, wenn sie nicht aufhört zu lügen.«
Leisha fing an zu weinen. Die Kinderfrau trug sie aus dem Speisezimmer, und Leisha hatte noch nicht einmal gefrühstückt. Aber das war nicht so wichtig. Wichtiger waren Alices Augen, die sie immerzu sah, während sie weinte, diese angsterfüllten Augen, in denen sich winzige Lichtsplitter spiegelten.
Aber Leisha weinte nicht lange. Die Kinderfrau las ihr ein Märchen vor und spielte dann DataMan mit ihr, und dann kam schon Alice nach oben, und die Kinderfrau fuhr mit den beiden in den Zoo nach Chicago, wo es diese vielen erstaunlichen Tiere zu sehen gab – Tiere, die sich Leisha nie hätte erträumen können. Und Alice auch nicht. Als sie vom Zoo zurückkamen, war Mami schon in ihrem Zimmer verschwunden, und Leisha wußte, dort würde sie zusammen mit dem komisch riechenden Zeug in den Gläsern den ganzen Tag bleiben, und Leisha würde ihr nicht begegnen müssen.
Doch in der Nacht wollte sie zum Zimmer ihrer Mutter.
»Fräulein, ich muß auf die Toilette«, sagte sie zur Hauslehrerin, und die fragte: »Soll ich mitkommen?«, vermutlich weil Alice auf der Toilette immer noch Hilfe brauchte. Aber Leisha brauchte keine mehr, und sie sagte: »Nein, danke.« Dann blieb sie, obwohl nichts kam, eine Minute lang auf der Toilette sitzen, damit das, was sie dem Fräulein gesagt hatte, keine Lüge war.
Und danach schlich sie auf Zehenspitzen über den Flur zu Alices Zimmer. Ein schwaches, kleines Licht glühte in der Nähe des Gitterbettchens an einem Steckkontakt an der Wand. In Leishas Zimmer stand kein Gitterbettchen. Leisha betrachtete zwischen den Stäben hindurch ihre Schwester. Alice lag mit geschlossenen Augen auf der Seite; ihre Lider flatterten wie Vorhänge im Wind. Ihr Kinn hing herab, und der Hals sah ganz schlaff aus.
Leisha schloß die Tür sehr leise und ging zum Zimmer ihrer Eltern.
Sie schliefen nicht in Gitterbetten, sondern auf einer riesigen Liegestatt; zwischen ihnen war genug Platz für noch mehr Leute. Mamis Lider flatterten nicht; sie lag auf dem Rücken und machte »chrrr-chrrr«. Der komische Geruch hing ganz stark über ihr. Schritt für lautlosen Schritt rückte Leisha ab von ihr und schlich auf Zehenspitzen hinüber zu Papa. Er sah aus wie Alice, nur daß sein Kinn und sein Hals noch schlaffer aussahen. Die Hautfalten schoben sich übereinander wie die Planen des Zeltes, das hinter dem Haus in sich zusammengefallen war. Es schreckte Leisha, Papa so zu sehen. Und dann klappte er so plötzlich die Augen auf, daß Leisha aufschrie.
Papa wälzte sich aus dem Bett, hob Leisha hoch und warf einen raschen Blick auf Mami. Doch die rührte sich nicht. Papa hatte nur Unterhosen an. Er trug Leisha hinaus auf den Flur, wo das Fräulein herbeigestürzt kam.
»Entschuldigen Sie, Sir! Die Kleine sagte, sie wollte nur zur Toilette…!« beteuerte sie.
»Ist schon gut«, sagte Papa. »Sie kommt mit mir.«
»Nein!« brüllte Leisha, denn Papa hatte nur Unterhosen an, und sein Hals sah so komisch aus, und in dem Zimmer hatte es so schlecht gerochen wegen Mami… Aber Papa trug sie ins Gewächshaus, setzte sie auf eine Bank, wickelte sich in ein Stück grüne Plastikplane, mit dem man sonst Pflanzen bedeckte, und setzte sich neben sie.
»Also, was ist passiert, Leisha? Was wolltest du denn?«
Leisha antwortete nicht.
»Du wolltest wissen, wie die Leute aussehen, wenn sie schlafen, stimmt’s?« fragte Papa, und weil seine Stimme jetzt wieder besänftigt klang, murmelte Leisha: »Ja.« Sie fühlte sich augenblicklich besser; es tat gut, nicht zu lügen.
»Du hast uns beim Schlafen zugesehen, weil du nie schläfst und du neugierig warst, nicht wahr? Wie das neugierige Mäxchen in deinem Buch?«
»Ja.« Leisha nickte. »Dabei sagtest du doch, du würdest in deinem Arbeitszimmer die ganze Nacht über Geld verdienen!«
Papa lächelte. »Nicht die ganze Nacht. Nur einen Teil davon. Aber dann schlafe ich, wenn auch nicht lange.« Er nahm Leisha auf die Knie. »Ich brauche nicht viel Schlaf, also kann ich nachts viel, viel mehr erledigen als die meisten Menschen. Aber
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