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Bettler 01 - Bettler in Spanien

Titel: Bettler 01 - Bettler in Spanien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Besuch, um Leisha und Alice zu besuchen. Manchmal kam sie allein, manchmal mit anderen Leuten. Leisha und Alice hatten Frau Doktor Melling sehr gern, weil sie soviel lachte und sie beide mit Wärme und Glanz in den Augen ansah. Oft war auch Papa dabei. Frau Doktor Melling machte Spiele mit ihnen, zuerst mit jeweils einer von ihnen allein, und dann mit beiden zusammen. Sie fotografierte sie und wog sie ab. Dann mußten sie sich flach auf einen Tisch legen und Frau Doktor Melling klebte ihnen kleine Metalldinger an die Schläfen, was sich zuerst schaurig anfühlte, aber wenn sie dann beide ruhig dalagen, gab es so viele Geräte zu beobachten, die alle interessante Geräusche machten, und Frau Doktor Melling wußte auf alle Fragen eine Antwort, genau wie Papa. Einmal fragte Leisha: »Ist Frau Doktor Melling etwas Besonderes? So wie Kenzo Yagai?« Und Papa lachte und sagte mit einem Seitenblick auf Frau Doktor Melling: »O ja, sie ist etwas ganz Besonderes.«
    Als Leisha fünf Jahre alt war, kamen sie und Alice in die Schule. Papas Chauffeur fuhr sie beide jeden Tag nach Chicago. Sie waren in verschiedenen Klassenzimmern, was Leisha enttäuschte. Die Kinder in Leishas Klasse waren alle schon großer und älter, aber vom ersten Tag an liebte sie die Schule heiß; es gab dort diese faszinierenden technischen Apparaturen und Computerspiele mit kniffligen mathematischen Denkaufgaben und andere Kinder, mit denen gemeinsam man fremde Länder auf der Karte suchen sollte. Nach einem halben Jahr kam sie wiederum in eine neue Klasse, und dort waren die Kinder noch größer, aber sie waren trotzdem nett zu ihr. Leisha fing an, Japanisch zu lernen. Es machte ihr Freude, die schönen Schriftzeichen mit einem Pinsel auf dickes weißes Papier zu malen. »Die Sauley-Schule war eine gute Wahl«, sagte Papa.
    Alice gefiel es in der Sauley-Schule nicht. Sie wollte unbedingt mit demselben gelben Bus zur Schule fahren wie die Tochter der Köchin. Sie weinte in der Sauley-Schule und warf ihre Malfarben auf den Boden. Dann kam eines Tages Mami aus ihrem Zimmer – Leisha hatte sie seit Wochen nicht zu Gesicht bekommen, wußte aber, daß Alice sie regelmäßig besuchte –, und schleuderte ein paar Kerzenleuchter vom Kaminsims auf den Boden; die Leuchter waren aus Porzellan und zerbrachen. Leisha lief hin, um die Scherben einzusammeln, während Mami und Papa am unteren Ende der breiten Treppe in der Halle standen und einander anbrüllten.
    »Sie ist auch meine Tochter! Und ich sage, daß sie hingehen darf!«
    »Du hast kein Recht, überhaupt etwas dazu zu sagen! Eine weinerliche Schnapsdrossel – das miserabelste Vorbild, das man sich für die beiden nur vorstellen kann! Und ich hatte geglaubt, ich bekäme eine vornehme englische Aristokratin!«
    »Du hast das bekommen, was du verdienst! Nichts! Aber du hast doch ohnedies nichts von mir gebraucht – oder von irgend jemandem sonst!«
    »Hört auf!« rief Leisha. »Hört auf damit!« Plötzlich war es ganz still in der Halle. Leisha schnitt sich an den Scherben, und Blut tropfte von ihren Fingern auf den Teppich. Papa stürzte herbei, nahm sie in die Arme und hob sie hoch. »Hört auf damit!« schluchzte sie und verstand nicht, was Papa damit meinte, als er sagte: »Du hör auf damit, Leisha. Nichts, was die anderen tun, berührt dich auch nur im geringsten. So stark mußt du schon sein.«
    Leisha vergrub das Gesicht in Papas Schulter, und Alice wechselte über in die Carl-Sandburg-Grundschule, wo sie der gelbe Schulbus jeden Tag gemeinsam mit der Tochter der Köchin hinbrachte.
    Ein paar Wochen später sagte ihnen Papa, daß Mami in ein Krankenhaus gehen würde, um aufzuhören mit dem vielen Trinken. Und hinterher, wenn sie wieder herauskam, würde sie eine Weile woanders leben, denn sie und Papa wären nicht glücklich miteinander. Leisha und Alice sollten bei Papa bleiben und Mami gelegentlich besuchen dürfen. Er sagte ihnen das sehr behutsam und fand die rechten Worte für die Wahrheit. Daß Wahrheit etwas sehr Wichtiges war, wußte Leisha bereits. Wahrheit hieß für sie, sich selbst und ihrer Besonderheit treuzubleiben, ihrer Individualität zu entsprechen. Ein echtes Individuum respektierte die Tatsachen und sagte daher stets die Wahrheit.
    Mami – das sagte Papa nicht, aber Leisha wußte es auch so – respektierte die Tatsachen nicht.
    »Ich will nicht, daß Mami weggeht«, sagte Alice. Sie begann zu weinen. Leisha dachte, Papa würde Alice in den Arm nehmen und hochheben, aber das

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