Bettler 01 - Bettler in Spanien
zerknautscht unter der rosa Decke lag und schlief.
2
Ihre erste Erinnerung drehte sich um fließende Linien, die nicht da waren. Leisha wußte, daß sie nicht da waren, weil ihre Faust leer blieb, wenn sie danach griff. Später dann wurde ihr klar, daß es sich bei den fließenden Linien um Licht gehandelt hatte – um schräg einfallende Sonnenstrahlen, die zwischen den Vorhängen ihres Zimmers, den Holzbrettern der Fensterläden im Speisezimmer oder den Gitterfenstern im Gewächshaus durchflimmerten. Eines Tages kam dann der Moment, in dem sie herausfand, daß die golden flirrenden Striche Licht waren, und da lachte sie laut; Entdecken machte solche Freude! Papa wandte sich von der Pflanze ab, die er gerade eintopfte, und lächelte ihr zu.
Das ganze Haus war voller Licht. Licht prallte vom Wasser des Sees ab, strömte über die hohen weißen Decken der Räume und kritzelte ein Wirrwarr auf die glänzenden Holzfußböden. Immerzu bewegten sie sich durch Licht, sie und Alice, und manchmal blieb Leisha stehen, legte den Kopf in den Nacken und ließ sich das Licht übers Gesicht rinnen; sie konnte es spüren wie Wasser.
Das beste Licht gab es natürlich im Gewächshaus. Dort hielt sich Papa am liebsten auf, wenn er vom Geldverdienen heimkam. Summend setzte er Pflanzen ein, goß die Bäumchen, und Leisha und Alice rannten zwischen den langen Holztischen mit den Blumen und ihrem herrlich erdigen Geruch herum, rannten von der dunkleren Seite des Gewächshauses, wo die großen purpurroten Blumen wuchsen, zur sonnigen Seite mit den gelben Blütenzweigen, und wieder zurück, ins Licht hinein und wieder heraus. »Das Wachsen«, sagte Papa zu ihr, »ist eine Verheißung, ein Versprechen, das die Blumen erfüllen. Alice, gib acht! Du hättest fast diese Orchidee abgebrochen!« Folgsam stellte Alice das Herumrennen für ein Weilchen ein. Von Leisha verlangte Papa nie, das Herumrennen einzustellen.
Nach einiger Zeit verschwand dann das Licht. Für Alice und Leisha hieß es baden, und dann wurde Alice für gewöhnlich still oder quengelig. Sie wollte nicht mehr mit Leisha spielen, auch wenn sie sich das Spiel und die schönsten Puppen aussuchen durfte. Dann brachte die Kinderfrau Alice ins Bett, und Leisha durfte noch ein Weilchen mit Papa plaudern, bis er sagte, nun müßte er sich in seinem Arbeitszimmer noch um die Papiere kümmern, mit denen er das Geld verdiente. Leisha bedauerte es immer ein wenig, wenn dieser Moment kam, in dem er gehen mußte. Aber kurz darauf traf ohnedies das Fräulein ein, und die geliebten Unterrichtsstunden begannen; es war so interessant, wenn man Dinge erfuhr, die man bisher noch nicht gewußt hatte! Leisha konnte schon zwanzig Lieder singen, alle Buchstaben des Alphabets schreiben und bis fünfzig zählen. Und wenn die Lektionen dann zu Ende gingen, kehrte auch das Licht wieder zurück, und es war Zeit für das Frühstück.
Das Frühstück gefiel Leisha am allerwenigsten. Papa war schon auf dem Weg ins Büro, und Leisha und Alice frühstückten zusammen mit Mami in dem großen Speisezimmer. Mami trug dabei den roten Morgenmantel, der Leisha so gefiel, und sie roch und redete noch nicht so komisch wie im späteren Verlauf des Tages. Trotzdem war das Frühstück nicht lustig. Mami fing immer mit derselben Frage an:
»Alice, Kleines, hast du gut geschlafen?«
»Sehr gut, Mami.«
»Und hast du etwas Schönes geträumt?«
Darauf sagte Alice lange Zeit nein. Doch dann sagte sie eines Tages: »Ich habe von einem Pferd geträumt. Ich bin darauf geritten.« Da klatschte Mami in die Hände und küßte Alice und gab ihr ein besonders zuckriges Stück Rosinenkuchen. Danach hatte Alice immer einen Traum, den sie Mami erzählen konnte.
Einmal sagte Leisha: »Ich hatte auch einen Traum. Ich träumte, daß das Licht durchs Fenster reinkam, und es hat sich um mich gewickelt wie eine Decke und hat mich auf die Augen geküßt.«
Mami stellte die Tasse so hart hin, daß der Kaffee herausschwappte. »Lüg mich nicht an, Leisha. Du hattest keinen Traum.«
»Doch«, beharrte Leisha.
»Nur Kinder, die schlafen, können Träume haben. Lüg mich nicht an! Du hattest keinen Traum!«
»O doch! Ich hatte einen!« schrie Leisha; sie konnte es beinahe vor sich sehen, das Licht, das durch das Fenster hereinströmte und sich wie eine goldene Decke um sie legte!
»Ich werde nicht dulden, daß mein Kind lügt! Hörst du, Leisha, ich dulde das nicht!«
»Du lügst selber!« schrie Leisha. Sie wußte, daß das
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