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Bettler und Hase. Roman

Bettler und Hase. Roman

Titel: Bettler und Hase. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tuomas Kyrö
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Gürtel nicht reichten, bohrte Vatanescu mit der Schere zusätzlich welche hinein.
    Ich bin nicht mehr erbärmlich. Was bin ich jetzt?
    Er zog die Anzugjacke über und setzte sich auf die Kloschüssel, um sich die Schuhe zu binden. Im Spiegel sah er die vertrauten Augen und ein sehr, sehr schiefes Grinsen. Ziemlich großer Fortschritt seit der Todesangst von gestern und der morgendlichen Flucht vor der Polizei. Er atmete noch eine Weile durch, dann machte er die Tür auf und ging nach oben.
    Die Schuhe klackten würdevoll auf der Holztreppe, es war ein vollkommen anderes Geräusch als das Pflötschen, das seine bisherigen Latschen ohne Schnürsenkel von sich gegeben hatten. Die alten Schuhe hatten signalisiert, dass er zu nichts zu gebrauchen war. Die neuen signalisierten: Hier kennt ein Mann seinen Weg und legt ihn in der gehobenen Mittelklasse zurück.

    Als er die Tür zum Gastraum erreichte, sah Vatanescu das Schlimmste, was er sich in diesem Moment vorstellen konnte: Ling Irmeli, die mit zwei Polizisten sprach. Sie hielten ein Foto von Vatanescu in der Hand, und sofort wurde Vatanescu wieder fortgerissen. Es waren aber nur seine Gedanken, die ihn fortrissen, er selbst blieb auf der Stelle stehen. Es gab genau zwei Möglichkeiten. Entweder er ging auf die Toilette zurück und schloss sich dort ein. Dann würden sie ihn erwischen. Die andere Möglichkeit war dieselbe wie bisher: Flüchten.
    Weißt du noch, wer dich soeben im Spiegel angesehen hat?
    Ein neuer Mann, ein anderer Mann, ein Jedermann.
    Ich bin nicht der Mann, der gerade noch in der Restaurantküche das Geschirr gespült hat.
    Vatanescu schaute auf sein Spiegelbild im großen Fenster.
    Ich bin nicht erbärmlich. Ich werde mich nicht an der Wand entlang vorbeidrücken, sondern direkt auf sie zugehen.
    Denn ich bin nicht der, den sie suchen.
    Sie suchen nicht mich.
    Und so trat Vatanescu ganz ruhig, mit hundertprozentigem Risiko und siebzigprozentigem Selbstbewusstsein, hinter Ling Irmeli hervor und schritt vor den Augen der Polizisten durch das Restaurant in die Küche.
    Dort empfing ihn Ming mit dem Zugfahrplan in der Hand. Er hatte die Uniformierten hereinkommen gesehen und seiner Tochter befohlen, sie aufzuhalten. Nun sollte Vatanescu durchs Fenster auf die Altpapiertonne steigen und auf diesem Weg in den Hinterhof gelangen. Bis zum Bahnhof waren es nicht mehr als zwei Kilometer.
    Ohne weiter nachzudenken, sprang Vatanescu aus dem Fenster. Das Kaninchen fiel ihm erst ein, als er bereits losgerannt war.
    Ming pfiff ihm vom Fenster aus hinterher.
    Vatanescu fing das Kaninchen auf.
    Hey ho, let’s go.

Vatanescu setzte sich auf den einzigen freien Platz im Waggon und hielt den Blick auf den Boden gerichtet.
    Ein Bettler kommt nicht ans Ziel.
    Ein Bettler kriegt keine Beeren und keine Stollenschuhe für seinen Sohn.
    Also ändere dich!
    Er dachte wie ein Fremder über sich nach und musterte die anderen, die Anzug und klackende Schuhe trugen. Die Besten von ihnen trugen diese Uniform lässig, aber glaubwürdig. Sie erwarteten einen Umgang, der ihrer Kleidung entsprach, und er wurde ihnen gewährt. Sie führten tragbare Computer mit sich sowie Telefone, die schon auf leichte Berührungen reagierten, und außerdem ein sehr dünnes Portemonnaie mit lediglich zwei Karten. So ändert sich die Welt. Heutzutage bedeutet ein dickes Portemonnaie, dass sein Besitzer krankhaft Belege sammelt. Früher bedeutete es genügend Barvermögen, um sich etwas von der Welt kaufen zu können. Diese Männer hier kamen mit lediglich zwei Karten durchs Leben und an die Welt.
    Nimm dir an ihrem Auftreten ein Beispiel, dann kommst du in die erste Klasse, als iPad-Besitzer.
    An Vatanescus Tisch saßen drei Jugendliche. Aus Vatanescus Sicht waren sie noch Kinder, sie selbst hielten sich für erwachsen. Der eine hieß Jonttu, war Abiturient und ein ehemaliges Eishockeytalent. Er achtete sehr auf seine achtlose Kleidung und darauf, dass man über seine Witze lachte, aber nicht über ihn. Sein Vater wollte, dass er die Glaserei übernahm, was Jonttu noch weniger interessierte als die von seiner Mutter erhoffte weitere Ausbildung an der Fachhochschule. In Jonttus Alter war der Sinn des Lebens die Freiheit in all ihren Formen. Der Preis, den man dafür bezahlte, war Leere in der Seele, in den Worthülsen und auf dem Konto. An diesem Tag stand für Jonttu die Richtung aber fest, ebenso wie für seine Reisegefährten Ökö und Minttu: Sie steuerten ein Erzbergwerk an, speziell den

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