Bettler und Hase. Roman
ein Kleinunternehmer zusätzliche Arbeitskräfte nur aus sich selbst herausholen oder davon träumen könne. Auf Schwarzarbeit wiederum griff man besser nicht zurück, weil man dann schnell seine Lizenz los war und damit seinen Lebensunterhalt.
Das dachte ich mir.
Ming deutete auf das Bild einer Bergkette, das zwischen seiner Mutter und Meiju Suvas hing. Wenn Vatanescu Herr über sein Schicksal werden wolle, müsse er dorthin gehen.
Ming erzählte von großen Lichtungen, von Sümpfen und Südhängen, auf denen ein Rohstoff wuchs, den man für gutes Geld verkaufen könne – Blaubeeren, Preiselbeeren und vor allem Moltebeeren: das gelbe Gold. Falls Vatanescu also anstelle von falschen Scheinen echte haben wolle, falls er die Arbeit nicht scheue und auf die Schnelle einen Akkordlohn für sich und das Kaninchen brauche, dann sei Beerenpflücken genau das Richtige für ihn.
Ming zeigte ihm in einem Naturführer die Beeren und Pilze, die zu sammeln sich lohnte, und in welchen die beste Aufwand-Nutzen-Relation steckte. Dann erzählte er vom finnischen Jedermannsrecht. Das gelte auch für den rumänischen und vietnamesischen Jedermann. Anfang der neunziger Jahre war Ming selbst oft in den Beeren- und Pilzrevieren gewesen und hatte mit dem Inhalt roter und blauer Eimer die meisten Vorsteuern und Kreditzinsen bezahlt.
Vatanescu blätterte in dem Naturführer. Die Seite mit den Moltebeeren war mit einer Büroklammer markiert. Ming sagte, die Stammbevölkerung dieses Landes kaufe lieber Tiefkühlbeeren aus Schweden, als sich die Köstlichkeiten selbst zu pflücken. Das sei verrückt, wie auch die Tatsache, dass es hier Tausende von Seen gebe, die Finnen jedoch keinen Zander aus ihren eigenen Gewässern kauften, sondern Pangasius-Filet aus Aufzuchtbecken in Mings Heimat. Mit dem Beerenpflücken sei es übrigens wie mit dem Goldwaschen: Der Beharrliche habe Erfolg, wenn auch nicht immer, doch jeder habe eine Chance. Man brauche weder Sprachkenntnisse noch Ausbildung, und nach einer Arbeitserlaubnis werde man auch nicht gefragt.
Ming öffnete den Kleiderschrank und reichte Vatanescu einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, eine Krawatte und polierte Schuhe. Es war einer der Anzüge, die für die Kellner bereithingen, aber für die größte Größe hatte noch nie Bedarf bestanden.
Ling Irmeli übersetzte die Worte ihres Vaters:
»Du bringst dich jetzt in Fasson, dann darfst du in der Küche auf dem Fußboden schlafen. Vorher sehen wir uns noch im weltweiten Informationsnetz die Eisenbahnfahrpläne des Nordens an. Und morgen brichst du auf.«
Anschließend nahm Ming einen Rasierer und eine Dose Rasierschaum aus der Schreibtischschublade und überreichte sie Vatanescu.
Die nächste Entwicklungsstufe des Kleiderbündels wäre Verlausung gewesen, dann Verrottung. Vatanescu warf das Bündel in den Mülleimer und schloss fest den Deckel.
Er stand nackt vor dem Spiegel der Toilette im Keller. Die Haare standen ab, der Bart spross, und wenn sich Vatanescu übers Gesicht fuhr, blieb Schmutz an den Fingerspitzen hängen. In einem Wörterbuch wäre er unter dem Schlagwort »erbärmlich« zu finden. Er packte seinen Bart und stutzte ihn auf einen Zentimeter, wobei reichlich zottige Barthaare ins Waschbecken schwebten. Anschließend sprühte er sich Rasierschaum in die hohle Hand, verteilte ihn bis hinauf zu den Ohren und rasierte sich mit kratzenden langen Zügen. Unter der Gesichtsbehaarung kam ein neuer Mann zum Vorschein. Nun schnitt sich Vatanescu auch die Haare auf dem Kopf, bis Ohren, Stirn und Nacken sichtbar wurden.
Mein Äußeres ist in Ordnung gebracht.
Werden sich auch die äußeren Lebensbedingungen in Ordnung bringen lassen?
Er spritzte sich Wasser unter die Achseln und ins Gesicht, befeuchtete mehrere Papierhandtücher und wusch sich damit am ganzen Körper. Braunes Wasser rann in den Abfluss. Zum Schluss schnitt sich Vatanescu die Nägel und die vier Haare, die auf seinem Ohrläppchen wuchsen. Dann betrachtete er sich von vorn.
Wer bist du?
Vatanescu betrachtete sich von der Seite.
Und wer bist du?
Er beugte sich ganz dicht an den Spiegel heran und sah blutunterlaufene, rote, schwarze und gelbe Augen, wie man sie aus medizinischen Experimenten kannte.
Wo gehe ich hin?
Worüber kann ein Mensch selbst entscheiden?
Er nahm das weiße Hemd vom Bügel.
Wann hatte ich zuletzt einen Anzug an? Bei meiner Hochzeit. Oder war es bei Miklos’ Taufe?
Er knöpfte das Hemd zu, zog die Hose an, und weil die Löcher im
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