Bettler und Hase. Roman
spürte er sie, obwohl er sie noch gar nicht sah, er spürte sie als elektrischen Strom auf der Haut. Zielstrebig drängte sich die Gestalt durch die Menge, sie kam immer näher, so unaufhaltsam, wie ein Fluss im Frühling sich vom Eis befreit.
Ich muss
hier weg.
Ich muss
das Kaninchen
in Sicherheit
bringen.
Es gibt über den Vorfall zahlreiche Zeugenaussagen und jede Menge Bildmaterial aus Überwachungskameras, aber es gibt nur einen Täter und ein Opfer. Hier die Sicht des Täters auf die acht Todesstiche:
»Mit beiden Händen räumte ich die Leute aus dem Weg wie eine Schiebetür. Schicht für Schicht, in Schritten von zwanzig Zentimetern. Die waren alle durchgeknallt, in einer Massenhysterie, aber meine Aufgabe bestand darin, die Ordnung wiederherzustellen. Ich hielt die Klinge versteckt unterm Unterarm und wusste, dass ein kräftiger Schnitt in den Hals am sichersten war, so wie wir es damals bei den Mudschahedin gemacht haben oder wie sich die Jedi-Ritter in den Weiberröcken da unten nennen. Die Frage war nur, ob ich nah genug rankommen würde, ob ich Vatanescu von hinten erwischte.
Jegor Kugar war wieder da.
Er kämpfte wieder, er würde bald ein Mythos sein.
Wollen wir doch mal sehen, über wen demnächst geschrieben wird!«
Jetzt
bin ich tot.
Simo Pahvi , der Ministerpräsident der Republik Finnland, saß mit seinem Chauffeur Esko Sirpale an der Neste-Tankstelle beim Tiergarten. Sie warteten auf den dritten Mann.
»Schlechte Stühle hier«, sagte Pahvi. »Die sind für Popos gemacht, ich hab aber einen Arsch.«
An diesem Tag sollte der Zukunft von Simo Pahvis Partei Kontur gegeben werden: Werte, Strategie, Richtung.
Alles hatte vor vierzig Jahren mit der Partei der Gewöhnlichen Kleinbauern angefangen, dem Lebenswerk von Simo Pahvis Vorgänger und Mentor Heikki Hamutta. Je nach Blickwinkel und politischer Einstellung des jeweiligen Journalisten hatte Hamutta als Querdenker, Staatsfeind, Krakeeler, Großmaul oder Messias gegolten. Pahvis Einschätzung nach kannte Heikki Hamutta schlicht und einfach das Volk, vertraute ihm und wollte nichts anderes als ihm dienen. Er stammte selbst aus dem Volk, war Spross des im Krieg verlorenen Landesteils. Und als ihm später die Türen zu den Fahrstühlen der besseren Herrschaften offen standen, nahm Hamutta noch immer lieber die Treppe oder die nicht asphaltierte Landstraße.
Die großen Dinge der kleinen Leute – darin sah Heikki Hamutta seine Lebensaufgabe. Er trat in der großen, weiten Welt für die kleinen Leute ein und verteidigte sie gegen die übermächtigen Feinde. Gegen die besseren Herrschaften, gegen die Kommunisten, gegen das finnische und gegen das ausländische Großkapital, gegen alles, was versuchte, auf die Grundstücke der Kleinbauern vorzudringen und ihnen das bisschen, das sie noch hatten, auch noch wegzunehmen. Dabei spielte es für Hamutta keine Rolle, ob die Gefahren real waren, es genügte, dass sie im Kopf der Kleinbauern Wirklichkeit wurden und dort in regelmäßigen Abständen aktualisiert wurden. Heikki Hamutta wollte den Teil des Volkes lebendig machen, von dem viele glaubten, er sei tot oder zumindest eingeschlafen.
Es gelang ihm, aus der kleinen Partei eine große Partei zu machen, und dabei waren seine Reden wichtiger als seine Taten. Die Wörter waren entscheidend. Die bildlichen Ausdrücke. Schnelligkeit und Schlagfertigkeit. Klare Hauptsätze, mit Humor gefärbt. Durchaus mit Spitzen, aber ohne Ironie. Kein Drumherum, keine Umschweife, nicht zu weit ausholen und nicht in zu luftigen Höhen landen. Dann will das Publikum mehr hören.
»Und einer, den man hören will, der kriegt auch Stimmen«, hatte Hamutta immer gesagt. »Einer, den die Leute hören wollen, der kriegt ein Gesicht. Und wer ein Gesicht hat, der wird bekannt. Der kommt in die Zeitung, der kommt ins Radio und ins Fernsehen. Der kriegt Hunderttausende Stimmen.«
Simo Pahvi hatte Heikki Hamuttas Stimme im Einkaufszentrum eines der Vororte von Helsinki gehört, die außerhalb des Autobahnrings liegen. Das war in den Jahren gewesen, in denen Braun und Gelb als Modefarben galten und das Fernsehen erst allmählich bunt zu werden anfing. Pahvi saß auf dem Sattel seines Fahrrads, aß ein Vanilleeis und dachte an klassische Jungsthemen: an die Höchstgeschwindigkeiten von Autos und an Supermans Geschicklichkeit im Kampf gegen Lex Luthor.
Dann aber brach plötzlich die tiefe Stimme eines kleinen Mannes aus einem tragbaren Lautsprecher. Heikki Hamutta
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