Bettler und Hase. Roman
zweite Mensch auf dieser Welt, der die Es-genügt-du-selbst-zu-sein-These bestätigte. Die meisten von uns müssen beträchtlich über sich selbst hinauswachsen, wenn sie mehr zustande bringen wollen als den morgendlichen Haferbrei, denn das eigene Selbst ist meistens ein widerlicher Fiesling, ein anstrengender Schwätzer, ein selbstgefälliges Arschloch, ein Lackaffe, ein Trottel, ein Gehirnzwerg, ein rücksichtsloser Weiberheld, ein schüchterner Schleicher, eine verhuschte Frühgeburt – auf jeden Fall etwas, das nirgendwo auf Widerhall stößt.
Simo Pahvis Verhalten hingegen stieß auf Märkten, in guten Stuben, in Kneipen und in Fußgängerunterführungen auf Widerhall, und zwar auf lauten Widerhall. Sein eigenes Selbst war der Onkel, der sagte, Schluss mit dem Gerede, an die Arbeit. Der sich traute, vom Tisch aufzustehen und zu sagen, wenn du weiter so einen Scheißdreck redest, Chef, schmeißen wir alles hin. Die Leute wären bereit gewesen, Simo Pahvi überallhin zu folgen, zu Tanzböden im Wald, zum Arbeiten nach Schweden, zur Wirtshausrauferei, in den Winter-, Fortsetzungs- und Bürgerkrieg oder auch in die Christmette.
Man musste nah an den Wählern dran sein, hautnah in zweierlei Hinsicht: auf der Pelle und unter der Haut. Man durfte nicht weiter weg sein als eine ungespülte Kaffeetasse oder eine in Tallinn gekaufte Bierdose. Im Sommer musste man im Drei-Quadratmeter-Garten einer städtischen Reihenmietshausanlage am Kugelgrill stehen und eine Packung Würstchen bereithalten. Von dort kam Pahvi, dort ging er hin, dort holte er sich die Legitimation für seine Politik und für sein Leben.
Er war er selbst gewesen, als er Niederlagen eingesteckt und Siege eingefahren hatte. Als er selbst war Simo Pahvi zu den Leuten draußen gegangen, um seine Wähler kennenzulernen. Zwar lernt man niemanden bloß per Händedruck kennen, aber Pahvi wusste Schlussfolgerungen zu ziehen und zu verallgemeinern, und zwar so, dass es ganz persönlich wirkte. Die wichtigsten Fragen lauteten: Was fehlt wem? Was bietet man an, um die Lücke zu füllen? Soll man das versprechen, was tatsächlich fehlt, oder etwas anderes? Sieht man die Schuld dort, wo der Fehler liegt, oder ganz woanders? Lagert man das Problem aus? Wem schiebt man die Schuld für Mängel und Fehler in die Schuhe?
Simo Pahvi gab das Bild eines Menschen ab, der ein Problem definierte und im nächsten Sommer wiederkam, um es zu beheben, ganz gleich worum es sich handelte, ob um eine herabhängende Regenrinne, um quietschende Bremsen, um die Abwanderung von Unternehmen ins Ausland, um Arbeitslosigkeit, zu niedrige Renten oder um die Immigranten.
Simo Pahvis Erscheinung ließ im Wähler immer mehr den Wunsch entstehen, wie Simo Pahvi zu sein. Und schließlich war der Abstand zwischen Pahvi und dem Volk so gering, dass die Wahlkabine nur noch einen Schritt entfernt lag und sich das Kreuz von selbst an die richtige Stelle malte.
Seiner Gewöhnlichkeit fügte Pahvi allerdings ein paar Abweichungen hinzu. Zwar trug er eine gewöhnliche, nach Rauch und Motoröl und Kebap-Soße riechende Steppjacke, dazu jedoch einen ungewöhnlichen grünen Schal, denn Simo Pahvi war Fan der schwedischen Bandy-Mannschaft Bemböle F.I.S. Seine Anhängerschaft war echt, entstanden während der Hochzeitsreise nach Uppsala, aber der Schal diente dazu, die Elastizität der politischen Grenzen zu testen. Akzeptierte man bei Pahvi die höchst seltsame Mannschaftswahl, würde man auch in schweren Zeiten jeden Entschluss und jede Richtungsvorgabe von ihm akzeptieren. Man darf die eigene politische Linie nicht zu straff ziehen, denn nur wenn man sich Spielraum lässt, kann man sich immer wieder Unterstützung in neuen Bereichen suchen. Und so, wie Pahvi es kalkuliert hatte, vollendete der Schal die Karikatur.
Der zweite Prüfstein war Jeesus Mähönen. Pahvi erzählte der Illustrierten
Bitte lächeln
im Interview, er kenne Jesus persönlich und berate sich oft mit ihm über Problemlösungsstrategien im privaten und politischen Bereich. Auch diese Aussage wurde vom Volk und von den Medien hingenommen, weil man sie als Gleichnis interpretierte. Immer wenn Pahvi zum Beispiel Fragen zum Haushalt nicht beantworten konnte oder wollte, sagte er wie aus der Pistole geschossen:
»Da muss ich zuerst Jesus fragen.«
Die Anhänger brachen in Gelächter aus. Die politischen Gegner wunderten sich, wie Pahvi es schaffte, damit Erfolg zu haben. Würden sie dergleichen sagen, würde man es als Symptom einer
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