Betty kann alles
Viertelstunde daheim sind, kriegt Mutter einen Herzschlag vor Angst.» Wir nahmen ein Taxi, ließen die Spesen auf Mr. Chalmers Rechnung setzen und fuhren heim.
Sonntag früh stellten wir beim Erwachen voller Begeisterung fünfzehn Zentimeter Schnee auf der Straße fest. «Keine Autobusse – keine langweiligen Ingenieure!» frohlockten wir.
Um halb fünf Uhr nachmittags lag der Schnee mindestens zwanzig Zentimeter hoch, das Haus wimmelte von Marys Freunden, und wir gaben gerade eine Vorstellung von Chesters und Colvins Tanzkünsten, als es an die Türe hämmerte und sich uns gleich darauf schneebedeckt und voller Eifer Chester und Colvin präsentierten. Sie waren zu Fuß herausgekommen. «Das ist doch gar nichts», erklärten sie und stampften sich den Schnee von ihren hochgeschlossenen Marschschuhen. «In Südamerika sind wir oft sechzig und siebzig Meilen zu Fuß durch die Gegend marschiert.»
«Daß Sie sich mal verlaufen, kommt wohl nicht vor?» erkundigte sich unsere kleine Schwester Dede interessiert.
«Hah!» machten Chester und Colvin im Chor. «Wir finden überall unsern Weg.»
Als sie sich gegen halb zwölf Uhr verabschiedeten, erklärte ihnen Cleve ganz genau den Rückweg, zeichnete ihnen sogar eine Skizze und erläuterte, daß er an einigen Punkten von der Hauptstraße abgewichen sei und kleine Umwege über die Eisberge im Beringschen Meer und um die Küste der Pribilof-Inseln eingeflochten habe. Das letzte, was wir von ihnen sahen, waren ihre über Cleves Skizze gebeugten Köpfe unter der Laterne an der Straßenecke.
Mit der Zeit lernte ich auf eigene Faust Leute kennen, und Mary mußte schon mit schwererem Geschütz aufrücken als mit dem bloßen Versprechen, ich würde mich amüsieren, wollte sie mich zur Verabredung mit einem ihrer Verehrer, für den sie keine Zeit hatte, überreden. Manchmal lockte sie mich mit der Aussicht auf eine gute Stellung. «Ich nehme dich mit zu der Cocktailparty, damit du Pierre triffst», sagte sie zum Beispiel. «Er ist sehr französisch, nicht mehr ganz jung, lebt von seiner Frau getrennt und braucht eine Privatsekretärin.»
«Wozu?» erkundigte ich mich voller Mißtrauen.
«Sei nicht albern! Weil er sehr viel zu tun hat und seine Sekretärin ihm letzte Woche gekündigt hat.»
«Warum?» forschte ich.
«Woher soll ich das wissen?» brauste Mary auf. «Und was interessiert es dich? Willst du eine gute Stellung oder nicht?»
Ich war damals gerade mit dem Kolorieren von Fotografien oder mit Büroarbeiten für einen Gangster oder einen Kaninchenzüchter beschäftigt, genau weiß ich es nicht mehr. Jedenfalls hätte ich gerne eine anständige Stellung gehabt und ging daher mit zu der Gesellschaft.
Pierre war klein, sehr elegant und äußerst gewandt. Er roch nach Haarwasser, rauchte nur Zigaretten mit seinen Initialen darauf und dirigierte mich nach den ersten paar Worten schon in eine Ecke, um geschäftlich mit mir zu reden. Er begann die geschäftliche Unterredung, indem er mit einem Finger über die Innenseite meines nackten Armes strich, als ziehe er ein Rasiermesser ab, und von ‹l'amour› sprach.
Nach einer Stunde war meine Geduld erschöpft. Ich machte mich mit Mühe frei, ging zur Gastgeberin und fragte höflich, ob sie nicht mit mir der Meinung sei, ich hätte mich nun lange genug in der Ecke des Salons aufgehalten. «Habt ihr euch über Ihre Anstellung geeinigt?» erkundigte sie sich.
«Bis jetzt hat er seinen Zeigefinger an meinem Arm gewetzt und von ‹l'amour› geredet», erwiderte ich.
«Ach, er ist so französisch!» sagte sie schwärmerisch. «Ist er nicht entzückend? Hat er Ihnen auch von den Frauen gesprochen und daß sie wie Violinen seien, deren Saiten man zu spielen verstehen müsse?»
«Ja», antwortete ich trocken. «Eine Stunde lang. Muß man solchen Unsinn bei ihm stenografieren?»
«Aber Betty!» rief sie strafend. «Kommen Sie, gehen wir zu Pierre und schaffen wir Klarheit.»
Gesagt – getan, aber Pierre wehrte entsetzt ab. «Über Geschäfte reden bei einer Cocktailparty? Jamais!» Also verabredete ich mich mit ihm zum Mittagessen für den nächsten Tag. Nachdem wir uns in einem kleinen italienischen Lokal häuslich niedergelassen hatten und Pierre die dunkelroten Samtvorhänge vor unserer Nische zugezogen hatte, dachte ich: ‹So, jetzt wird er gleich von Gehalt und Arbeitszeit und bezahlten Überstunden reden›. Ich setzte mich gerade hin, sah ihn erwartungsvoll an und versuchte, sehr tüchtig zu wirken. Pierre schob ein
Weitere Kostenlose Bücher
Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition) Online Lesen
von
Mike Krzywik-Groß
,
Torsten Exter
,
Stefan Holzhauer
,
Henning Mützlitz
,
Christian Lange
,
Stefan Schweikert
,
Judith C. Vogt
,
André Wiesler
,
Ann-Kathrin Karschnick
,
Eevie Demirtel
,
Marcus Rauchfuß
,
Christian Vogt