Betty kann alles
dachte ich, es wäre doch nett, wenn wir alle miteinander ausgingen heute abend.»
Ich war damals noch nicht erfahren auf diesem Gebiet und sagte zu.
Der Freund aus Kalifornien hieß Stan, und sein erster ins Auge springende Fehler war das Nichtvorhandensein eines Kinns. Ich gebe zu, daß dies kein Maßstab für seine Anständigkeit oder Tüchtigkeit war, aber ich stellte nun einmal gewisse Ansprüche, und einer dieser Ansprüche erforderte es, daß mein jeweiliger Kavalier über ein Kinn zu verfügen hatte. Ich machte Jack meinen Standpunkt in dieser Angelegenheit klar.
«Ach, ihr Frauen seid unerträglich», schimpfte er. «Stan ist einer der hellsten Burschen, die es je gegeben hat.»
«Von mir aus kann er so hell sein, daß er im Dunkeln leuchtet», versetzte ich, «aber er hat kein Kinn, und er kann nicht tanzen.»
Und dann gab es einen anderen Fall; diesmal ging es um einen gewissen John.
«Aber Betty», sagte mein Bruder Cleve vorwurfsvoll. «John war nur dreimal im Gefängnis, und sie haben ihm nie wirklich etwas beweisen können.»
«Wie oft er im Gefängnis gehockt hat, ist mir gleichgültig», gab ich hitzig zurück, «und ich mache mir auch nichts daraus, wenn er sein Messer an der Zunge wetzt oder Tabak kaut, aber was mir nicht paßt, ist, daß er seit zwei Jahren keine weiße Frau gesehen hat und sich auf einen stürzt wie ein Verhungerter auf ein Stück Brot.»
Oder unser Freund Richard kam und berichtete: «Ach, Betty, ein alter Schulfreund von mir ist auf der Durchreise nach Honolulu hier, und da wollen wir heute abend alle zusammen ausgehen. Osbert wird dir sicher gefallen, er ist ein reizender Mensch.»
Osbert sprach von Anne und Joan als von «den Würmern», Hunde bezeichnete er als Hundichen, meine Mutter nannte er gleich Mammi, ich wurde von ihm als Puppe angeredet, und Mary stempelte er zum Rotkopf. Osbert trank nicht, rauchte nicht, tanzte nicht, aber als die Darbietungen in dem Lokal, in dem wir saßen, begannen und ein Mädchen, das drei kleine Stückchen Stoff strategisch sehr geschickt über ihren sonst nackten Körper verteilt hatte, von einem blauen Scheinwerfer beleuchtet auf den Händen hereingetänzelt kam, wurde Osbert lebendig, schob sich durch die dicht gedrängt sitzenden Zuschauer bis vorne in die erste Reihe und versank so in den Anblick der Dame mit den drei Stückchen Stoff, daß er es nicht einmal bemerkte, wie sein Nachbar ihm mit der brennenden Zigarre den Anzug versengte.
Nachdem die Darbietung zu Ende war, lud Osbert die Tänzerin ein, zu uns an den Tisch zu kommen und ein Glas mit uns zu trinken. «Danke, nein, ich hab noch nie nicht geraucht oder getrunken», erklärte die Dame, und so bestellte denn Osbert ein belegtes Brot für sie – «mit Huhn, aber ganz zart».
Die Tatsache; daß Osbert mit der Tänzerin nach Beendigung des Programms so gut wie verlobt war, verletzte meinen Stolz kein bißchen. Ich machte mir nur Gedanken, wo er ihr sein Studentenabzeichen anheften konnte.
6
Februar 1933 war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, arbeitslos zu sein. In der Rubrik «Stellenangebote» in den Tageszeitungen wurden höchstens Eierdurchleuchterinnen – Bezahlung pro Stück – oder Werbedamen für Wochenblätter gesucht. Die Vermittlungsbüros hatten nur sehr wenig Stellen zu vergeben, quollen aber buchstäblich über von Stellenanwärtern. Lange Reihen Wartender lehnten erschöpft an den Wänden, zogen sich durch die Korridore und oft bis auf die Straße hinunter.
Von Tag zu Tag sah man eine bessere Schicht Leute an den Straßenecken Äpfel verkaufen. Auf die Tips selbst guter Freunde war kein Verlaß, wenn es um eventuelle Stellungen ging. Dies kam mir sehr peinlich zum Bewußtsein, als ich mich bei einer Firma vorstellte, bei der angeblich der Posten einer Sekretärin zu vergeben war, und mir die Auskunft zuteil wurde, man sei noch nicht in der Lage, über eine neue Anstellung zu verhandeln, da die bisherige Sekretärin eben erst aus dem Fenster gesprungen sei.
Die Leiter der Handelsschulen, Abendkurse und Schnellausbildungsprogramme blieben steif und fest bei der Behauptung, es sei einzig und allein Sache des sicheren Auftretens und des gut Angezogenseins, ob man eine Stelle bekam oder nicht.
Ob sie es wirklich nicht besser wußten oder einfach nicht den Mut hatten, den jungen Leuten die Wahrheit zu gestehen, weiß ich nicht. Jedenfalls wurde ein Neuling, selbst wenn er über die herrlichsten Zeugnisse auf sämtlichen verlangten Spezialgebieten
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